11. September-Reportage Nachdenken über die, die fehlen

NEW YORK · Am Ground Zero, der riesengroßen Explosionsstelle in New York, haben bis zum schwarzen 11. September 2001 die 417 Meter hohen Zwillingstürme des World Trade Centers gestanden. Eine Reise zu dem Ort, der die Welt seither veränderte.

Eine gespenstische Stimmung. Mitten in Manhattan, unter metallisch glänzenden Wolkenkratzern, ist nichts als das Rauschen von Wasser zu hören. Pausenlos. Nur ab und zu dringt leise das Sirenengeheul einer Ambulanz von den nahen Avenues herüber. Aus zwei von Kupferumrandungen gefassten riesigen Becken ergießen sich auf diesem Mahnmal-Terrain jeweils neun Meter hohe Wasserwände in die Tiefe zweier Bassins und von dort aus in dunkle Schlünde. Menschen stehen an den Beckenmauern und blicken unverwandt in die gähnende Tiefe. Manche streichen leicht über die ins Kupfer eingefrästen Tausende von Namen.

Genau hier am Ground Zero, der riesengroßen Explosionsstelle in New York, haben bis zum schwarzen 11. September 2001 die 417 Meter hohen Zwillingstürme des World Trade Centers gestanden. Bis sich zwei von Terroristen gekaperte Flugzeuge im Herzen des Finanzdistrikts mit gut 940 Kilometern die Stunde in die Symbole der US-Wirtschaftsmacht bohrten. Und die Hitze der Explosion selbst die Stahlkonstruktionen der Hochhäuser zerstörte. Die Wucht der aufprallenden Flieger, die aufsteigenden Rauchsäulen, die schließlich in sich zusammensinkenden Twin Towers - wem hat sich dieses Horrorszenario nicht ins Gedächtnis gebrannt?

Dieses 9/11-Memorial, das ebenerdige Mahnmal für die rund 3000 Opfer der Terroranschläge, hat seit seiner Eröffnung im Jahr 2011 rund vier Millionen Besucher angelockt. "Reflecting absence", also Nachdenken über die, die fehlen, heißt das von Daniel Libeskind entworfene riesige Ensemble am Ort, an dem über lange Zeit noch Schuttberge weggeräumt und Leichenreste sowohl aus den Türmen als auch aus den Fliegern geborgen werden mussten. Im Gedenkpavillon im Eingangsbereich erinnern Informationsschriften, Videos und einzelne Ausstellungsstücke an die Katastrophe.

Seit Mai dieses Jahres stellt auf dem Gelände in einem riesigen Glaskubus zusätzlich das 9/11-Museum sämtliche Fundstücke der Katastrophe auf sieben unterirdischen Etagen aus: vom einzelnen verkohlten Männerschuh bis zur zerfetzten Kleinkindpuppe. Aber eigentlich braucht man in den Kubus gar nicht erst hinunterzuklettern. Schaudernd nachfühlen lässt es sich am besten draußen im gleißenden Sonnenlicht unter den neu hochgezogenen Wolkenkratzern vis-à-vis, wie die gigantischen Träger der Twin Towers ob der enormen Explosionen ihre Türme nicht mehr halten konnten.

[kein Linktext vorhanden]Touristen aus aller Herren Länder drängen aufs Gelände, obwohl die komplizierten Sicherheitsvorkehrungen jedem internationalen Flughafen zur Ehre gereichen würden. Der Eintritt ist für den Außenbereich zwar kostenlos. Doch ohne eine Spende von zumindest fünf Dollar kommt wohl kaum jemand am gestrengen Personal vorbei. Sogar das dürre Abraham-Lincoln-Double, das freundlich darauf beharrt, an diesem sonnigen Nachmittag in seiner Alltagskleidung erschienen zu sein, muss bei der Kontrolle seinen viktorianischen Zylinder abnehmen und sich abtasten lassen.

Ausstellungstücke im New Yorker 9/11-Museum
14 Bilder

Ausstellungstücke im New Yorker 9/11-Museum

14 Bilder

Die meisten Besucher umrunden hauptsächlich die riesigen Becken und starren wortlos in die schwarzen Schlünde, in die die Wassermassen gurgelnd verschwinden. Das Lincoln-Double steht verlassen vor der Kulisse. Ihn will an diesem ernsten Ort wirklich keiner fotografieren. Die hageren Gesichtszüge verziehen sich. Der Zylinder steckt inzwischen unterm Arm. Bei Sonnenstrahlen spiegeln sich auf den Bassinrändern die zwei Türme des nahen neuen World Trade Centers. Sie messen jetzt schon 541 Meter. Die Weltmacht wird die Terroranschläge im kommenden Jahr also mit noch höheren Wolkenkratzern endgültig beantwortet haben.

Unten auf den Kupferflanken der Bassins sind die Namen der 2983 Menschen eingefräst, die ihr Leben hier sowie an den beiden anderen Anschlagsorten im Washingtoner Pentagon und auf einem Feld bei Shanksville in Pennsylvania ließen. Kleine US-Fähnchen sind auf Namenszügen postiert oder weiße Rosen und Nelken. An einem anderen Mahnmal in einer Nebenstraße, an der Station der New Yorker Feuerwehr, müssen immer wieder neue Opfernamen eingeritzt werden: Lange nach dem 11. September 2001 sterben immer noch Helfer an den Folgen des damals aufgewirbelten mörderischen Staubs, der pulverisierten Beton in ihre Lungen getrieben hatte.

Unter den Opfern des Südturms springen auch deutsche Namen ins Auge. Heinrich Kimmig, Klaus Bothe und Wolfgang Peter Menzel waren als Manager eines Baden-Württemberger Technologiekonzerns hilflose Passagiere des Flugs 175 gewesen, der den Südturm zum Einsturz bringen sollte - und mit ihm viele Hundert Menschen, darunter auch die Landsleute Sebastian Gorki und Klaus Sprockamp. Ob Kimmig, Bothe und Menzel, die drei deutschen Manager, noch bewusst sahen, wie ihre Boeing 767 in steiler Kurvenlage direkt in den gigantischen Turm hineinraste?

Kurz vor dem Start des Fluges hatte Personalchef Menzel noch seine Frau in Deutschland angerufen und ihr versprochen, dass dies seine letzte Dienstreise sein werde. Familienvater Bothe hatte seine kleine Tochter grüßen lassen. Lara feierte genau an diesem 11. September 2001 ihren dritten Geburtstag. Ahnungslos verfolgte die Familie dann im Fernsehen live, wie sich die Maschine des Vaters zum Terrorgeschoss verwandelte. Ein Jahr später konnte Lara dann wenigstens einen kleinen Knochen ihres Vaters in das bis dahin leere Grab legen lassen. US-Wissenschaftler hatten aus den sterblichen Überresten am Ground Zero das Knöchelchen identifizieren können.

Constanze Menzel, die andere 9/11-Witwe, hat bis heute nichts außer dem Staub vom Ort des Massakers in Händen halten können. Unfassbar sei der Tod, wenn ein Mensch gehe, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen, sagt sie. Hier im Schatten der Trauerbäume auf dem 9/11-Memorial kann aber auch Wolfgang Peter Menzel gedacht werden. Sein Name ist im Schatten der neuen glitzernden Wolkenkratzer neben dem seiner Kollegen zu lesen. Und unentwegt rauschen die Wassermassen in die dunklen Löcher, wo einst die stolzen Twin Towers standen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort