Kommentar zum Bild des ertrunkenen syrischen Jungen Mitleid genügt nicht

Bonn · Ein totes Flüchtlingskind liegt angespült am Strand. Das Foto löst Betroffenheit aus - und eine Debatte darüber, was man zeigen darf. Ein Kommentar von GA-Chefredakteur Helge Matthiesen.

Das Foto des ertrunkenen syrischen Jungen Ailan Kurdi, der nur drei Jahre alt wurde und tot am Strand bei Bodrum in der Türkei liegt, fasst auf einen Blick das erschütternde Drama zusammen, das sich derzeit an den Grenzen Europas abspielt. Es macht unmissverständlich klar, um was es hier wirklich geht: um Leben und Tod. Und es macht unmissverständlich klar, dass Mitleid nicht genügt. Wir sind zum Handeln aufgerufen, praktisch und politisch.

Darf eine Zeitung dieses Bild drucken und damit ein Tabu verletzen? Es gibt Fotos, die zeithistorische Dimensionen in dramatischer Weise verdichten: die vietnamesischen Mädchen auf der Flucht vor der Bombardierung ihres Dorfes; Hitler und die Kindersoldaten im Hof der zerstörten Reichskanzlei; das einstürzende World Trade Center. Das heutige Bild von dem toten Jungen gehört in diese Reihe. Es vermittelt eindringlich und unmissverständlich eine Wahrheit, eine furchtbare Wahrheit.

Es darf nicht sein, dass Menschen ertrinken, weil sie von einem Land in ein anderes wollen, ganz gleich, ob sie dazu das Recht haben oder nicht. Solche Katastrophen zu verhindern, ist ein Gebot der Menschlichkeit, auch wenn deutsche Städte und Gemeinden durch die Flüchtlinge an den Rand des Möglichen geraten. Das ist eine Einsicht, die in unserem Land tief im Trauma des Zweiten Weltkrieges wurzelt. Damals flohen über zehn Millionen Deutsche vor den Sowjets. Hunderttausende starben, darunter ungezählte Kinder, denen niemand half. Ihren Verlust haben viele Familien bis heute nicht verschmerzt. Wir haben heute die Mittel, es besser zu machen. Wir sollten sie nutzen.

Hass und Gewalt sind nicht akzeptabel

Doch damit ist die Frage nicht beantwortet, wie Deutschland und wie Europa diese Krise überstehen und lösen wollen. Das Land kümmert sich um die akute Hilfe. Das ist gut so, aber es wird nicht genügen. Was Deutschland auf lange Sicht will, erscheint derzeit weitgehend unklar. Es gibt noch keinen gesellschaftlichen, geschweige denn einen politischen Konsens, wie das Land den Zustrom bewältigen soll. Es gibt viele Illusionen, zum Beispiel die von einer Lösung des Fachkräftemangels durch die Zuwanderer. Die Fragen, die es hier zu klären gibt, sind sehr viel größer als Debatten um Kinderbetreuung oder die nächste Rentenerhöhung.

Hass und Gewalt sind nicht akzeptabel. Aber diese wichtige Debatte wird nicht funktionieren, wenn alle, die sich kritisch zum Flüchtlingszustrom äußern, sofort in die rechte Ecke gestellt werden. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, offen über Schwierigkeiten zu diskutieren, wird es keine Lösungen geben. Es ist daher an der Zeit, vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen, in allen Teilen der Gesellschaft, links und rechts.

Politiker sind gefordert

Unsere Politiker sind gefordert, das Land auf unbequeme Wahrheiten einzustimmen: Niemand hat die Situation derzeit wirklich im Griff. Niemand weiß, wie viele Menschen noch kommen. Niemand hat ein Konzept, was langfristig wird. Wer gewählt ist, muss jetzt Verantwortung übernehmen, und jeder einzelne Bürger auch.

Das sagt das Bild des toten Jungen am Strand von Bodrum. Jeder sollte es gesehen haben. Deshalb drucken wir es und zeigen es bei ga.de.

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