Kommentar zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution Land des Zaren

Meinung · Zwar geht nach der russischen Verfassung die Macht im Staat vom Volk aus. Aber in Russland ist das eine papierene Wahrheit, kommentiert Stefan Scholl.

 Im Winterpalast in der russischen Stadt St. Petersburg weist eine hohe Plakatwand auf eine Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution hin.

Im Winterpalast in der russischen Stadt St. Petersburg weist eine hohe Plakatwand auf eine Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution hin.

Foto: dpa

Was es denn da zu feiern gäbe, fragte Kremlsprecher Dmitri Peskow kürzlich. Staatlicherseits plane man keinerlei Veranstaltungen zum 7. November. Russlands Führung drückt sich um den 100. Jahrestag der Revolution, ein Großteil der Öffentlichkeit auch. Statt über Lenin oder Trotzki diskutierte man lieber monatelang über „Mathilde“, den Skandalfilm um die erste Liebe des letzten Zaren. Noch bevor jemand den Streifen gesehen hatte, wollten russisch-orthodoxe Eiferer „Mathilde“ als Beleidigung des Monarchen verbieten.

Aber einmal in den Kinos erwies sich der Film als arg geschönte Hymne auf Nikolaus II.: Zwar taumelt der Thronfolger lang und heftig zwischen der Ballerina Mathilda und seiner Pflicht hin und her. Aber als er am Ende doch die Krone auf dem Kopf hat, entpuppt er sich als vorbildlicher Landesvater... Zaren oder Selbstherrscher, wie sie in ihrer Zeit auch genannt wurden, sind große Mode in Russland. Staatliche Nachrichtenagenturen wie oppositionelle Internetkanäle verbreiteten letzte Woche in eifriger Eintracht das neue Titelbild des britischen Economist: Wladimir Putin in Zarenuniform. Das Cover gefiel wohl auch als optischer Brückenschlag von Putins Gegenwart zur ruhmvollen Vergangenheit des russischen Imperiums.

Mal schlägt der nationalpopulistische Altparlamentarier Wladimir Schirinowski die Rückkehr zur Monarchie vor, mal der korruptionsumwitterte Krim-Gouverneur Sergei Aksjonow. Beobachter in Moskau glauben, der zynische Teil der Beamtenschaft spekuliere darauf, dass man unter einem neuen Zar ebenso unabsetzbar werde wie dieser. Und als neuer Adel auch den Anspruch verbriefen könne, seine Pfründe an die eigenen Söhne weiterzugeben. Solcherlei Erbfolgerecht ist bei Rosneft, Gasprom und anderen Staatskonzernen informell schon gang und gäbe.

„Jeder Russe ist in seiner Seele Monarchist“, versichert ein weiterer nationalpopulistischer Parlamentarier, nicht zu Unrecht. Zwar geht nach der russischen Verfassung die Macht im Staat vom Volk aus. Aber in Russland ist das eine papierene Wahrheit, die keiner recht ernst nehmen will, auch das Volk nicht. Politik als Recht, aber auch Pflicht, mitzuentscheiden, gilt sehr vielen Bürgern als überflüssig bis ungehörig. Und Wahlen bestenfalls als notwendiges Übel.

Russland sehnt sich nach Stabilität, nicht nach Freiheit. Zwar versichern Soziologen des halbwegs liberalen Lewada-Meinungsforschungsinstituts, weniger als zehn Prozent der Bürger seien für die Monarchie als Regierungsform. Aber laut Lewada stehen 82 Prozent der Russen hinter Wladimir Putin, während 51 Prozent von ihnen mit der Regierung und 57 Prozent mit der Staatsduma unzufrieden sind... Unser Zar ist gut – unsere Bojaren aber schlecht, eine traditionell russische und ziemlich monarchistische Denkweise. Man könnte es auch Gesinnungszarismus nennen.

US-Regisseur Oliver Stone sagte Wladimir Putin in einem Interview, man glaube, er wolle Zar werden. Putin wich bescheiden aus: Es gelte, wenigstens jene Machtbefugnisse richtig anzuwenden, die er jetzt besitze. Wladimir Putin wird oft mit Nikolai I. verglichen, vorletztes Jahrhundert berühmt für seine aggressive Außenpolitik und reaktionäre Innenpolitik. Auf den Kundgebungen der oppositionellen Minderheit aber werden die ersten Sprechchöre laut: „Nieder mit dem Zaren!“

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