Die Lage in der Türkei Kritische Parlamentarier im Visier

Istanbul · Das Parlament in Ankara stimmt für die Aufhebung der Abgeordneten-Immunität. Kurdische Politiker sehen den Entscheid als Affront.

 „Mein Volk möchte im Parlament keine Abgeordneten sehen, die Verbrechen begangen haben“, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan gestern. Damit bezog er sich auch auf Unterstützer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). FOTO: DPA

„Mein Volk möchte im Parlament keine Abgeordneten sehen, die Verbrechen begangen haben“, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan gestern. Damit bezog er sich auch auf Unterstützer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). FOTO: DPA

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Seit Monaten toben in der Türkei heftige Kämpfe zwischen den Sicherheitskräften und den kurdischen PKK-Rebellen, es gibt Anschläge und Überfälle – doch das war noch nichts im Vergleich zu dem, was jetzt kommen könnte, sagte der Staatsrechtler und Kurdenpolitiker Mithat Sancar. Nachdem das türkische Parlament mit großer Mehrheit für die Aufhebung der Immunitäten von Abgeordneten gestimmt hat, wird der Kurdenkonflikt noch einmal eskalieren, erwarten Sancar und andere. Im Parlament votierte eine breite Front von Parteien dafür, die Kurden aus der Volksvertretung zu werfen.

„Wir werden wieder Dinge wie in den 90er Jahren sehen, vielleicht noch schlimmere“, sagte Sancar. In den 1990er Jahren hatte der Kurdenkonflikt mit außergerichtlichen Hinrichtungen, der Zerstörung mehrerer tausend kurdischer Dörfer und blutigen Anschlägen der PKK seinen bisherigen Höhepunkt erreicht.

Mit Genugtuung reagierte dagegen Präsident Recep Tayyip Erdogan auf die Abstimmung im Parlament, die auf Initiative seiner Regierungspartei AKP angesetzt worden war. Erdogan sprach von einem historischen Tag. „Meine Nation will keine straffälligen Abgeordneten im Parlament sehen“, sagte er.

Erdogan meinte damit jene mehrere Dutzend Fraktionskollegen von Sancar in der HDP, die sich jetzt darauf einrichten müssen, vor Gericht gestellt zu werden. In den meisten Fällen wird ihnen die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, weil sie die Ziele der PKK propagiert haben sollen. Im Parlament genoss die AKP beim Votum gegen die Kurden nicht nur die Unterstützung der Nationalistenpartei MHP, die in der HDP ohnehin nur eine Marionette der PKK sieht, die in der Volksvertretung nichts zu suchen hat. Auch mindestens 20 Abgeordnete der links-säkularistischen Oppositionspartei CHP müssen dem Ergebnis zufolge in geheimer Abstimmung für den AKP-Vorschlag votiert haben. Und das, obwohl die CHP tagaus tagein auf die AKP und Erdogan schimpft – doch als es um die Kurden ging, schlossen sich einige Oppositionelle lieber dem Präsidenten an, als die Kollegen von der HDP zu schützen.

Diese Haltung löste wütende Kritik im Lager der Regierungsgegner aus. Die CHP habe der AKP die Hand gereicht und sich damit mitschuldig gemacht, hieß es. Schon vor mehr als 20 Jahren hatte sich im Parlament eine große Koalition türkischer Parteien zusammengetan, um kurdische Abgeordnete, darunter die spätere Trägerin des Menschenrechtspreises des EU-Parlaments, Leyla Zana, loszuwerden und vor Gericht zu stellen.

Damals eskalierte der Kurdenkonflikt um so stärker, doch die heutigen Politiker hätten nichts aus der Geschichte gelernt, kritisierte der Kolumnist Hasan Cemal. „Wieder hat der Krieg gewonnen.“ Der Autor Hayko Bagdat riet der Anti-Kurden-Front im Parlament ironisch dazu, doch gleich wieder zu der Behauptung aus den 1990ern zurückzukehren, wonach es überhaupt keine Kurden gebe. Von „Bergtürken“ war damals statt dessen die Rede.

In einem ersten Schritt will die HDP nun Verfassungsklage gegen den nach ihrer Ansicht rechtswidrigen Parlamentsbeschluss einlegen, braucht dafür aber die Unterschrift von mindestens 100 Abgeordneten. Derzeit ist unklar, ob sich in den Reihen der CHP genügend Politiker finden, die bereit sind, die 59 HDP-Kollegen zu unterstützen.

Scheitert der Versuch, könnten schon bald 50 HDP-Abgeordnete vor Gericht erscheinen. Bei einer Verurteilung würden ihre Mandate vakant – was der AKP die Chance einräumen würde, über Nachwahlen den eigenen Sitzanteil im Parlament von derzeit 316 weiter zu erhöhen. „In der Türkei gibt es keine unabhängige Justiz“, sagt HDP-Chef Selahattin Demirtas. „Es gibt nichts, was Erdogan und die Justiz daran hindern könnte, uns ins Gefängnis zu werfen.“

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