Brexit Keine halben Sachen

London · Premierministerin Theresa May kündigt in ihrer Grundsatzrede einen Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt an, um künftig die Einwanderung aus EU-Mitgliedstaaten kontrollieren zu können. Doch mit Details geht sie sparsam um.

 Auftrieb für das britische Pfund: Während und nach der Rede von Theresa May legte die zuletzt schwer angeschlagene Währung kräftig zu.

Auftrieb für das britische Pfund: Während und nach der Rede von Theresa May legte die zuletzt schwer angeschlagene Währung kräftig zu.

Foto: AFP

Allein der gewählte Ort für die Brexit-Grundsatzrede bot eine gewisse Ironie. Im palastartigen Lancaster House, nicht weit vom Machtzentrum Westminster entfernt, hielt im Jahr 1988 die ehemalige konservative Premierministerin Margaret Thatcher einen Lobgesang auf den europäischen Binnenmarkt und pries den unbeschränkten Handel zwischen den Mitgliedstaaten. Am Dienstag, fast 29 Jahre später, verkündete die jetzige und ebenfalls konservative Regierungschefin Theresa May in demselben prachtvollen Herrenhaus das Ende dieser Mitgliedschaft.

Großbritannien strebt einen klaren Bruch mit Brüssel an, gab May vor Diplomaten und Medienvertretern in London bekannt. Zugleich erklärte sie zum ersten Mal seit dem Referendum am 23. Juni und ihrer Amtsübernahme im Juli die groben Pläne für die anstehende Scheidung, auch wenn sie Details vermissen ließ. Mittlerweile sprechen Beobachter nicht mehr so viel von einem harten Brexit, sondern bevorzugen, ihn „sauber“ zu nennen, was im Ergebnis dasselbe heißt: Es werde „keine Teil-Mitgliedschaft in der EU“ geben oder einen Zustand „halb drinnen, halb draußen“, machte May deutlich. Ihre Botschaft: Das Königreich verlässt die Gemeinschaft und das in vollem Ausmaß, insbesondere um die volle Kontrolle über die Einwanderungspolitik und die nationale Souveränität zurückzugewinnen.

Das waren die Kernargumente der Austrittsbefürworter vor der Volksabstimmung. Ein Großteil entschied sich für den Bruch mit Brüssel, um die Zuwanderung aus den EU-Staaten einzuschränken. Die europäischen Partner auf dem Kontinent zeigten sich jedoch stets beharrlich, dass es den vollen Zugang zum Binnenmarkt nur im Paket mit den vier Grundfreiheiten gebe, zu denen auch die Personenfreizügigkeit gehört.

Deshalb, so konstatierte May, könne das Königreich nicht Teil des gemeinsamen Wirtschaftsraums bleiben. Stattdessen will sie einen umfassenden Freihandelsvertrag mit Brüssel schließen, und den „größtmöglichen Zugang“ zum gemeinsamen Markt erreichen.

Verfolgt London nicht jene „Rosinenpickerei“, vor der Regierungschefs wie Kanzlerin Angela Merkel unaufhörlich warnen? Ratspräsident Donald Tusk bezeichnete den geplanten Brexit per Twitter als „traurigen Vorgang in surrealistischen Zeiten“. Mays Rede zeuge nun aber zumindest von mehr Realismus. Dabei gab sich die Britin selbstbewusst. Etliche Male sprach sie von Großbritanniens Weg hin zu einer „globalen“ Handelsmacht – es schien wie eine Flucht nach vorn. „Kein Deal ist besser für Großbritannien als ein schlechter Deal“, sagte sie zudem und warnte abermals ihre Partner auf der anderen Seite des Ärmelkanals davor, das Königreich für die Brexit-Entscheidung mit einem harten Verhandlungskurs zu bestrafen. Dies wäre „ein verhängnisvoller Akt der Selbstbeschädigung.“ Dann könnte das Land eine Änderung seines Wirtschaftsmodells in Betracht ziehen.

Es ist eine Drohung, die Befürchtungen befeuern wird, die Insel könnte durch eine Absenkung der Körperschaftssteuer zum Steuerparadies werden, um so Unternehmen und Investoren anzulocken. Gleichwohl betonte May, es sei in Großbritanniens „nationalem Interesse, dass die EU Erfolg hat“.

Überraschend kam ihr Versprechen, den mit der Union ausgehandelten Deal am Ende dem Unterhaus und dem Oberhaus zur Abstimmung vorzulegen. Es darf als Zugeständnis an ihre Kritiker verstanden werden, die ein Mitspracherecht forderten. Weil die Konservativen eine Mehrheit im Parlament besitzen, kann May auf eine Bestätigung ihres Kurses hoffen. Doch was passiert, sollte das Parlament das Abkommen trotzdem ablehnen? Diese Antwort blieb die Regierungschefin den Zuhörern schuldig.

Gleichzeitig ließ May etliche Beobachter enttäuscht zurück, da sie keineswegs den Vorhang zu ihrem vermeintlichen Master-Brexit-Plan gelüftet hat. Die Premierministerin verriet weder Details über den künftigen Status von EU-Einwanderern auf der Insel oder von jenen Tausenden Briten auf dem Kontinent, noch gab sie etwa einen genauen Fahrplan bekannt oder machte Angaben zu künftigen Zahlungen in den EU-Haushalt. Klar ist aber, dass die Regierung bis Ende März offiziell den Scheidungsantrag nach Artikel 50 des EU-Vertrags von Lissabon stellen will, womit der auf zwei Jahre befristete Austrittsprozess beginnt.

Wirtschaftsvertreter, die täglich die Bedeutung des vollen Zugangs zum Binnenmarkt betonen, zeigten sich sowohl frustriert als auch besorgt. Es sei unrealistisch, die Ziele zu erreichen, hieß es bei einigen. Andere freuten sich über die relativ pragmatische Herangehensweise.

Trotzdem hängen weiterhin Sorgen der Ungewissheit, wie die Realität außerhalb der EU aussehen wird, wie dichte, dunkle Wolken über der Finanz- und Unternehmenswelt. Immerhin, fast die Hälfte aller Exporte geht in EU-Mitgliedstaaten. Tim Farron, Chef der Liberaldemokraten, meinte deshalb, ein harter Brexit würde der Wirtschaft „massiven Schaden“ zufügen.

May beugt sich mit ihrem Kurs vor allem den Europaskeptikern in ihrer eigenen Tory-Partei, die seit Monaten die völlige Abkapselung von Brüssel fordern. Ein weicher Brexit sei kein Brexit. Sie verwiesen auf die Mehrheit der Bevölkerung, die am 23. Juni für den Austritt gestimmt hatte.

Manchmal wähnte man sich angesichts der heiteren Partystimmung unter EU-Gegnern in Westminster gar in einem Paralleluniversum. Risiken wurden ausgeblendet, Expertenmeinungen als Angstmacherei abgetan. Knapp die Hälfte der Briten aber wollte in der Gemeinschaft bleiben. Sie wurden auch gestern in Theresa Mays Rede größtenteils ignoriert. Die tiefen Gräben in der Gesellschaft bleiben vorerst bestehen.

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