Franz Meurer im Interview Kölner Pfarrer spricht über Armut und was dagegen getan wird

Köln · Für Pfarrer Franz Meurer ist Kinderarmut kein abstrakter Begriff. In seinen Kirchengemeinden St. Theodor und St. Elisabeth in den Kölner Stadtteilen Höhenberg und Vingst (HöVi) hat der "Sozialpastor" mit vielen Kindern zu tun, die es schwer haben. Mit Meurer sprach Bernd Eyermann.

 Stigma Armut: Vielen Familien fällt es schwer, Hilfsangebote anzunehmen. Darunter leiden die Kinder.

Stigma Armut: Vielen Familien fällt es schwer, Hilfsangebote anzunehmen. Darunter leiden die Kinder.

Foto: dpa

Wie macht sich Armut bei Ihnen in den Gemeinden bemerkbar?

Meurer: Hier gehen nur 25 Prozent der Kinder zum Gymnasium. Zehn Prozent der Bürger sind überschuldet, der höchste Wert in Köln. Das sind nur die äußeren Werte. Kinderarmut ist aber leider zuerst Bildungs-Kontakt-Armut.

Wie meinen Sie das?

Meurer: Nehmen Sie das Vorlesen. Ein Kind bekommt in Deutschland im Durchschnitt 1756 Stunden vorgelesen. Bei uns wird den Kindern zum Teil gar nicht vorgelesen. Sonntags bauen wir lange Tische mit Büchern auf, von denen sich die Kinder so viele mitnehmen können, wie sie wollen.

Welches Ziel haben Sie?

Meurer: Wir versuchen, dass die Stimmung hier im HöVi-Land kippt. Dazu gehört, dass wir vor Weihnachten 40 Tannenbäume aufstellen, die von den Kindergärten und den Schulen geschmückt werden. Dazu gehört, dass demnächst hoffentlich die 53 000 Osterglocken rauskommen, die gepflanzt worden sind. Dazu gehört auch, dass wir im vorigen Jahr 600 Fahrrädchen verteilt haben. Wir versuchen einfach, dass es hier im Viertel ein bisschen besser läuft.

Auch durch Lebensmittelausgaben.

Meurer: Die machen wir jede Woche für 500/600 Leute, weil sie sagen, das hilft uns und gibt uns Luft.

Sehen Sie einen Trend bei der Kinderarmut?

Meurer: Solange die Anzahl der prekären Arbeitsverhältnisse zunimmt, bleibt die Kinderarmut ein großes Problem.

Was fordern Sie von der Gesellschaft?

Meurer: Ich fordere von der Gesellschaft gar nichts. Das sollen Politiker machen oder von mir aus auch Journalisten. Ich mach mein Ding hier. Das ist nämlich wichtig. Schuster bleib bei deinen Leisten.

Sie haben auf die Kritik, dass Ihre Art der Problemlösung eher vordergründig sei, mal gesagt: Ich brate so lange Frikadellen, bis die strukturellen Probleme gelöst sind. Was sind denn die strukturellen Fragen, die gelöst werden müssen?

Meurer: Peter Sloterdijk sagt, ein Gesellschaftsvertrag beginnt damit, dass die Menschen entscheiden, in welchem Klima sie leben wollen. Albus Dumbledore sagt in Harry Potter: Wichtig sind nicht unsere Fähigkeiten, sondern die Entscheidungen, die wir fällen. Darauf kommt es an. Ganz viele Förderschüler würden zum Beispiel gern Altenpflegehelfer werden. Aber wir sind nicht in der Lage, eine Ausbildung zu organisieren, die ohne schriftliche Prüfung auskommt. Denn eine solche Prüfung könnten viele von ihnen gar nicht schaffen.

Sie nehmen die Jugendlichen daher an die Hand.

Meurer: Wir kümmern uns um sie und helfen ihnen etwa durch Bewerberbücher, in denen sie sich möglichen Arbeitgebern vorstellen. Ich hab gerade hier eins vorliegen. Da sagen 76 junge Menschen: Wir wollen uns einbringen, wir wollen in der Gesellschaft dabei sein. Das ist Teil der Lösung. Mit den Bewerbungsbüchern verdreifacht sich die Chance.

Wie groß ist der Personenkreis der Menschen, die bei Ihnen konkret Hilfe leisten und mitmachen?

Meurer: Das weiß ich nicht genau. 100 Gruppenleiter, 300 Erwachsene. Wir machen das ja alles ökumenisch. Wir erwarten eigentlich von jedem bei uns, dass er anpackt. Wenn man fragt, wie viele helfen mit, dann heißt es doch gleich wieder, wie viele helfen den Armen. Nein, darum geht es nicht. Wir helfen uns gegenseitig. Das ist die alte Arbeiterkultur, dass man füreinander ein bisschen Verantwortung trägt.

Es geht bei Ihnen gar nicht in erster Linie um die Bewältigung der Armut?

Meurer: Wir nehmen die Kinder mit, oder versuchen es zumindest. Schauen Sie, wir bilden hier im Viertel gerade wieder über 100 Gruppenleiter aus. Denen sagen wir zweierlei: Dass sie zu den Kursstunden immer kommen müssen, weil sie sonst ein echtes Problem haben, und dass sie ab jetzt die Vorbilder der Kinder sind. Für uns ist klar: Wer HöVi-Land-Leiter ist, muss sich das ganze Jahr über benehmen. Die Kinder gucken auf die Leiter und wollen so werden wie sie. Das alles sind Kleinigkeiten, aber die sind total wichtig.

Zur Person:

Der 60-jährige Franz Meurer ist seit 20 Jahren Pfarrer in den beiden Kölner Stadtteilen Höhenberg und Vingst. Zuvor war er viele Jahre Jugendseelsorger im Rhein-Sieg-Kreis. Für seine Verdienste um den Zusammenhalt in der Gesellschaft wurde Meurer im Jahre 2002 die erste Alternative Kölner Ehrenbürgerschaft verliehen.

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