Interview Joachim Kardinal Meisner: "Das Volk Gottes stimmt mit den Füßen ab"

köln · Der Kölner Kardinal Meisner über das Treffen der Laien, weshalb er nicht teilnimmt und was der Kirche fehlt.

 Joachim Kardinal Meisner: "Ich hoffe wirklich, dass ich mit 80 gehen kann."

Joachim Kardinal Meisner: "Ich hoffe wirklich, dass ich mit 80 gehen kann."

Foto: Günther Meisenberg

Herr Kardinal, Sie gehen in Ihr 80. Lebensjahr, sind bald 50 Jahre Priester. Was ist für Sie das entscheidende Charakteristikum der katholischen Kirche in dieser Zeit?
Kardinal Meisner: In meiner Biografie ist, wenn Sie so wollen, die Geschichte unseres Volkes seit 1933 präsent. Als ich geboren wurde, war Hitler elf Monate im Amt. Ich hab die Nazizeit in meiner schlesischen Heimat erlebt, dann die Flucht nach Thüringen, die ganze kommunistische Zeit in der DDR, ich bin ja erst neun Monate vor dem Untergang des Kommunismus hierher nach Köln gekommen.

Was war das Kennzeichen all dieser Jahre?
Meisner: Das Kontinuum in dieser ganzen Zeit war die Kirche. Sie hat uns den inneren Freiraum gegeben, dass wir den Rücken gerade halten konnten, dass wir uns nicht ducken mussten. Wenn sich immer an Pfingsten meine Familie trifft - das sind mittlerweile 80 Menschen -, ist das immer wieder Thema. Meine Verwandten konnten deshalb alle nicht studieren. Wir hatten in der Kirche sozusagen unsere geistigen Antibiotika, wir mussten dem Sozialismus nicht nachlaufen.

Die Lehre für heute?
Meisner: Ich freue mich immer über junge engagierte Leute, zum Beispiel wie auf dem Weltjugendtag in Madrid, die sagen: Wir wollen nicht eingezogen werden in den Sog dessen, was heute so üblich ist. Wir wollen wir sein.

Da springen wir mal gleich zum Katholikentag, der heute in Mannheim beginnt. Motto: Einen neuen Aufbruch wagen. Wohin muss die Kirche aufbrechen?
Meisner: Nicht die Kirche, die Gläubigen müssen aufbrechen. Was hindert junge Christen daran, in die Fußgängerzonen zu gehen und die Bibel zu verschenken? Ich würde sie ihnen bezahlen. Aber sie müssen auf die Straße gehen. Wir alle sind doch Kirche. Wir müssen den Glauben weitergeben. Ich warne also vor bloßen Strukturdebatten. Das ist erst die fünfte oder sechste Priorität. Es muss eine Lust sein, katholisch zu sein. Ich mag diese Miene nicht: Ich bin ja leider katholisch.

Sind Sie beim Katholikentag dabei?
Meisner: Nein, ich weihe in jenen Tagen die neue Benediktinerabtei in Tabgha im Heiligen Land ein. Jerusalem ist älter als Mannheim.

Sie Sind ohnehin kein Katholikentagsfan.
Meisner: Nein, das stimmt so nicht. 1980 in Berlin war ich sogar der Katholikentagsbischof. Und den im Jahre 1990 habe ich vorbereitet. Aber die Katholikentage sind in meinen Augen nicht mehr das, was sie mal waren.

Was fehlt Ihnen dort?
Meisner: Die katholische Mitte fehlt, bei der man die Verbundenheit und Einheit von Papst, Bischof, Priestern und dem Volk Gottes spürt. Ich will mir jetzt kein Urteil erlauben, ich habe die letzten Katholikentage nicht besucht. Aber die Zahlen zeigen ja auch, dass es nicht unbedingt einen Trend zu Katholikentagen gibt. Wir hatten an den Weihnachtstagen bis zu Epiphanie im Dom 30 000 Gottesdienstbesucher. Oder gucken Sie nach Trier zur Heilig-Rock-Wallfahrt. Da liegen die Aufbrüche. Auch das Volk Gottes stimmt sozusagen mit den Füßen ab. In diese Richtung müssen wir denken und aufbrechen.

Aber zum Katholikentag kommen doch viele Menschen, die sich auch Gedanken um die Gesellschaft machen.
Meisner: Ja natürlich, aber sie müssen das aus dem Fundus katholischer Glaubensüberzeugung tun, und nicht bloß mitreden, was heute so üblich ist. Dazu gehören zum Beispiel die Fragen des Naturrechts, die der Papst im Bundestag angesprochen hat: Der Mensch kann mit dem Menschen nicht machen, was er will. Ich werde leider, zum Beispiel beim Thema Genmanipulation, bestätigt in meiner Warnung vor einer Wanderdüne: davor, dass hier immer mehr Grenzen fallen. Bei uns in Deutschland diskutiert man nun schon über die Hilfestellung beim Suizid. Das ist nur ein weiteres Beispiel.

Sie nehmen kein Blatt vor den Mund.
Meisner: Nein, das werden Sie mir nicht vorwerfen können. Das habe ich im Kommunismus gelernt. Man muss den Mut haben, die Wahrheit deutlich zu sagen. Ich bin nicht da, um eine gute Figur zu machen oder um eine gute Presse zu haben. Aber in der Gesellschaft müssen wir dafür leidenschaftlich werben.

Altersweisheit?
Meisner: Nun gut, ich werde bald 80, ich hab mein Testament fertig, und ein Bischof verfasst noch ein letztes Geistliches Vermächtnis - auch das hab ich fertig. Ein Bischof muss Rechenschaft abgeben, Sie übrigens auch, aber ein Bischof besonders. Ich hab versucht, mich nie zu fürchten oder aus Feigheit die Wahrheit zu verschweigen. Das war nicht immer leicht, aber die Kirche ist kein katholischer Verein. Und wir können ihre Sendung nicht dadurch bewahren, dass wir die Inhalte etwas billiger machen. Wenn der Dialog nicht durch den Glauben getragen wird, bleibt er fruchtlos.

Wird der Eucharistische Kongress im kommenden Jahr hier in Köln so etwas wie der krönende Abschluss Ihrer Bischofskarriere?Meisner: Nein, in keiner Weise. Dazu ist der Kongress zu wichtig. Aber abgesehen davon, hoffe ich wirklich, dass ich mit 80 gehen kann. Nicht weil ich nichts mehr tun will - ich bin noch ganz gut beieinander -, aber weil ich es dann nicht mehr tun muss. Ich muss dann zum Beispiel keine Konferenzen mehr abhalten und keine Interviews mehr geben, aber ich kann dann vieles wichtige Andere tun.

Was wollen Sie dann tun?
Meisner: Na beispielsweise regelmäßig bei der Beichte im Dom aushelfen. Oder Einkehrtage halten und Familien oder kranke Leute besuchen.

Der Papst hat bei seinem Deutschlandbesuch für die Entweltlichung der Kirche geworben...
Meisner: Gut, dass Sie das ansprechen. Sonst hätte ich?s jetzt gemacht.

Verstehen Sie, dass man dieses Wort missverstehen kann?
Meisner: Als er das gesagt hat, dachte ich: Donnerwetter. Ich brauchte auch ein paar Minuten, bis ich das verstanden hab. Gemeint ist, wie es bei Paulus heißt: Gleicht Euch der Gestalt dieser Welt nicht an, denn sie vergeht. Der Sauerteig muss in das Mehl hinein, aber er darf nicht Mehl werden. Oder das Salz: Salz muss Salz bleiben. Das heißt: Die Kirche und ihre Einrichtungen müssen ein klares Profil zeigen, von den anderen unterscheidbar sein.

Ein anderes Bild von Ihnen dafür ist das Auto.
Meisner: Ja, mir kommt die Kirche in der Bundesrepublik vor wie ein Auto, dessen Karosserie zu groß ist. Mein Bestreben ist, einen stärkeren Motor einzubauen. Geht das nicht, muss eine kleinere Karosserie her. Wir müssen im himmlischen Jerusalem ankommen, egal ob mit Nobelkarosse oder im Kleinwagen. Ich muss nur ankommen. Das innere und das äußere Profil müssen übereinstimmen. Wir sollten uns, um des Profils willen, durchaus auch von manchem trennen.

Wie vom Kindergarten in Königswinter...
Meisner: Der Fall ist weitaus komplizierter, aber was dort geschah, widersprach auch unserer Grundordnung. Und die muss ich überall einhalten. Wir bleiben den Leuten etwas schuldig, wenn wir Etikettenschwindel betreiben. Im Haus muss das drin stecken, was über der Tür steht. Wenn katholisch draufsteht, muss der Inhalt entsprechend sein.

Dann schrumpft die Kirche immer weiter...
Meisner: Die Institutionen sind doch nicht Selbstzweck. Die Kirche hat drei Aufgaben: Wahrheit künden, Leben spenden, Liebe üben. Die Kirche muss also Glaubensgemeinschaft, Lebensge-meinschaft, Liebesgemeinschaft sein. Wir müssen durch unser Zeugnis berührbar werden. Zum Beispiel geh ich gelegentlich in Köln abends ums Viertel. Ich mache, wenn Sie so wollen, an jeder Straßenkreuzung dann drei Hausbesuche, das heißt, ich rede mit den Leuten, die auch auf Grün warten. Das Evangelium liegt also eigentlich auf der Straße, ich brauche zunächst gar keine Institutionen, um das Evangelium zu bringen. Die Kirche muss sich wieder wie am Anfang an die Straßen stellen. Die Institution kann helfen, aber sie ist nicht lebensnotwendig für eine missionarische Kirche.

Der Islam ist auf dem Vormarsch. In diesem Jahr wird hier in Köln die große Moschee eröffnet. Werden Sie hingehen?
Meisner: In Deutschland herrscht Glaubensfreiheit. Und jede Glaubensgemeinschaft hat im Rahmen der Gesetze das Recht, diese Freiheit in Anspruch zu nehmen. Da ist es doch selbstverständlich, dass muslimische Menschen hier eine Moschee bauen. Aber ich erwarte, dass diese Leute dann auch darauf hinwirken, dass in ihrer Heimat, sprich in der Türkei, es den Christen genauso möglich ist, ihren Glauben frei zu bekennen. Das gehört zur Ehrlichkeit und Redlichkeit ihres Korans, so wie ich den katholischen Glauben Lügen strafen würde, wenn ich zur Verfolgung von Muslimen in christlichen Ländern schweigen würde. Da wünsche ich mir mehr tatkräftige Unterstützung. Ich habe mich fünf Jahre lang für die Pauluskirche in Tarsus in der Türkei eingesetzt. Aber ich bin dort immer nur, bis hin zu Ministerpräsident Erdogan, von allen Stellen vertröstet worden, wie ich das nur vom Sozialismus in der DDR kannte. Und deshalb ist, was diesen Punkt betrifft, meine Freude über die neue Moschee sehr getrübt.

Was fällt Ihnen aktuell zum Thema Kapitalismus ein?
Meisner: Ich bin biografisch mehr ein Fachmann für den Sozialismus als für den Kapitalismus. Ich hab zunächst den Kapitalismus als freies Spiel von Angebot und Nachfrage immer verteidigt. Und ich bin froh, dass es Gewerkschaften gibt, die immer das Gleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer herstellen. Bei der sozialen Marktwirtschaft ist das wichtigste Wort "sozial" dreimal zu unterstreichen.

Was halten sie vom Betreuungsgeld?
Meisner: Kindergarten war für mich immer eine Ausnahme und ein Angebot. Man muss schon den Eltern überlassen, wie sie ihre Kinder erziehen wollen und ihnen die finanziellen Möglichkeiten bieten, ihre Kinder zu Hause zu belassen. Dass das missbraucht werden kann, gebe ich zu. Was kann denn nicht missbraucht werden?

Letzte Frage: Haben Sie einen Wunsch für Ihre Nachfolge - das könnte ja auch ein regierender Kardinal sein?
Meisner: Da ist der Papst frei. Die Kirche ist kein Kalifat, wo der Kalif für seine Nachfolge sorgt. Ich kenne einen, der meine Nachfolge schon weiß: der liebe Gott. Und der wird das Richtige tun. Ich brauche ihm nicht ins Handwerk zu pfuschen.

Zur Person: Joachim Kardinal Meisner wurde am 25. Dezember 1933 in Breslau geboren. Nach der Vertreibung aus Schlesien lebte Meisner in Thüringen und machte dort eine Lehre als Bankkaufmann. Dann studierte er in Erfurt Philosophie und Theologie und wurde dort auch 1962 zum Priester geweiht. 1980 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Bischof von Berlin. Seit 1989 ist er Erzbischof von Köln.

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