Flüchtlingsdeal Ist die Türkei ein sicherer Drittstaat?

Brüssel · In der Türkei wurde der Ausnahmezustand verhängt und die EU-Charta der Menschenrechte in wichtigen Teilen ausgesetzt. Jetzt wachsen in Brüssel die Zweifel, ob die Union weiterhin Flüchtlinge an den Bosporus zurückschicken darf.

Die Bilanz der vergangenen Tage ist erschreckend: Listen im Internet zufolge hatte die türkische Führung bis zum 21. Juli (12.05 Uhr) 65 449 Menschen festnehmen lassen, von ihrem Job suspendiert oder gleich rausgeworfen – Rechtsanwälte, Lehrer, Beamte, Journalisten und sogar Polizisten. Außerdem wurde der Ausnahmezustand verhängt und die EU-Charta der Menschenrechte in wichtigen Teilen ausgesetzt.

Doch noch immer belässt es die Europäische Union bei verbalen Drohungen ohne politische Konsequenz. Zwar mehren sich inzwischen Forderungen wie die des Europa-Abgeordneten Arne Gericke (Familien-Partei), der das Aussetzen der Menschenrechtskonvention mit den Worten kommentierte: „Das ist eine unmissverständliche Aufkündigung einer gemeinsamen Wertebasis mit der EU – und kann nicht folgenlos bleiben.“ Doch im Vorfeld der Sommerpause aller Institutionen, die Ende kommender Woche beginnt, schweigt Brüssel weitgehend, wo sonst längst der Ruf nach einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs ertönt wäre.

Mehr oder minder ungerührt von den Ereignissen in der Türkei werden sogar die politischen Initiativen von der Vorbereitung der Visa-Freiheit bis hin zu den wieder angelaufenen Beitrittsgesprächen fortgeführt – oder zumindest nicht offiziell infrage gestellt. Das bestätigte die EU-Kommission am Freitag sogar ausdrücklich.

Dabei drängt sich ein Problem immer mehr auf: „Die Türkei ist kein sicherer Rechtsstaat“, betonte die Chefin der Grünen-Fraktion in der EU-Volksvertretung, Rebecca Harms, am Freitag gegenüber unserer Zeitung. Mehr noch: „Wir werden bald vielen Bürgern der Türkei Asyl gewähren müssen.“ Auch der Vizepräsident der europäischen Volksvertretung, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), teilte auf Anfrage mit: „Nach allem, was da jetzt passiert ist, müssen wir sehen, dass das Land nicht mehr sicher ist, und ich will nicht ausschließen, dass wir künftig Personen haben, die mit Recht auf Asyl pochen, weil sie politisch verfolgt werden.“

Tatsächlich basiert der Flüchtlingsdeal mit Ankara, den die EU im März geschlossen hatte, zu einem erheblichen Teil auf einer Zusage der türkischen Regierung, die internationalen Regelungen zum Flüchtlingsschutz der Genfer Konvention einzuhalten. Doch die Zweifel wachsen, ob das Land am Bosporus noch garantieren will, was für eine solche Vereinbarung notwendig ist: die Beachtung der Menschenrechte. „Nach deutschem Recht ist die Türkei kein sicherer Drittstaat“, stellte der CSU-Europa-Abgeordnete Markus Ferber gegenüber unserer Zeitung klar. Sollte die EU offiziell eine Verletzung der Abmachungen durch die Türkei feststellen, wäre dies das Ende des Flüchtlingsdeals mit Ankara.

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