Namensgeber von neuem Lehrstuhl in Bonn In der politischen Welt polarisiert kaum jemand wie Henry Kissinger

WASHINGTON · Wenn einer der meistbewunderten und meistgehassten Politiker seiner Generation sein Steckenpferd zäumt und die Politik des Auswärtigen zur Analyse auf die Couch legt, sind Neugier und Aufmerksamkeit garantiert.

Aber nicht zwangsläufig Begeisterung. Wer nach 420 Seiten das 17. Buch von Henry Kissinger mit dem schlichten wie anmaßenden Titel "Weltordnung" aus der Hand legt, stellt fest, dass auch ein Solitär wie der 91-jährige Ex-US-Außenminister nicht vor abgestandenen Allerweltsweisheiten zurückschreckt.

Hieß es in seiner studentischen Abschluss-Arbeit noch originell "Das grundlegendste Problem der Politik ist nicht die Kontrolle der Bösartigkeit sondern die Begrenzung der Selbstgerechtigkeit", so ließ das Lektorat dem auch fast 40 Jahre nach Dienstende in Washingtons Foggy Bottom omnipräsenten Netzwerker Eingebungen wie diese durchgehen: "Außenpolitik ist keine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende", sondern "ein Prozess des Managens und Ausbalancierens immer wiederkehrender Herausforderungen". Donnerwetter.

Wobei der erste Teil genau genommen nicht stimmt, wenn man Kissinger beim Wort nimmt. In "Weltordnung" macht der ab dieser Woche an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn mit einer umstrittenen Professur geehrte Staatsmann, der seinen Bewunderern bis heute ein begnadeter Stratege und Friedensklempner ist und seinen Verächtern ein skrupelloser, egomanischer Brandstifter, 366 Jahre zurückliegende Ereignisse in Osnabrück und Münster zum Referenzpunkt seiner jüngsten Welterklärung.

Im Westfälischen Frieden von 1648, der das Ende des 30-jährigen Krieges in Europa auf dem Verhandlungsweg besiegeln sollte, sieht der gebürtige Mittelfranke die Geburtsstunde jener globalen Austarierung von Macht und Anspruch, die heute durch verschiedene Fliehkräfte akut gefährdet sei.

Als da wären? Das Chaos im Nahen Osten, die Verbreitung nuklearer Waffen, das Herausschälen des Cyberspace als Schauplatz künftiger digital-militärischer Auseinandersetzungen, Putin-Russland, der Muskelzuwachs Chinas und der nationalstaatliche Grenzen ignorierende internationale Dschihadismus.

Für Kissinger ist die Herausforderung heutzutage nicht mehr eine "multipolare Machtverteilung, sondern eine Welt der zunehmend widersprüchlichen Realitäten". Die Annahme, dies würde sich im Sinne von Balance und Zusammenarbeit von allein zurechtschütteln, sei falsch, sagt der noch im Sommer erfolgreich am Herzen operierte "elder statesman".

Die Vermutung, Kissinger halte einen gangbaren Lösungsweg parat, ist es allerdings auch. Selbst eine glasklare Antwort auf die Frage, ob das Amerika von heute imstande und dazu berufen wäre, die in Unordnung geratene Welt auf Kurs zu bringen, ist nicht zu finden. Allenfalls Andeutungen der Kategorie An-den-Werten-des-Westens-allein-kann-die-Welt-nicht-genesen.

Beispiel Afghanistan: Al-Kaida und die Taliban anzugreifen als Antwort auf 9/11 - okay. Aber die "radikale Neuerfindung der afghanischen Geschichte" mittels einer "demokratischen, pluralistischen, transparenten Regierung" konnte nicht gelingen, weil es dafür in der Historie des Landes nicht einen einzigen Anknüpfungspunkt gegeben habe.

So sehr Kissinger hier die Zustimmung der Fachwelt gewiss sein dürfte, so sehr hadern Politikwissenschaftler bis heute mit der Rolle, die der am 27. Mai 1923 in Fürth zur Welt gekommene Heinz Alfred Kissinger spielte, als er sich selbst anschickte, Geschichte neu zu erfinden.

Die Kissingers waren jüdischen Glaubens. Sie flüchteten 1938 vor den Nazis in die USA. Henry A., wie er sich inzwischen nannte, besuchte eine High School im New Yorker Stadtteil Washington Heights. Er lernte schnell Englisch, wurde aber nie seinen leicht rollenden deutschen Akzent los.

1943 erlangte er die amerikanische Staatsbürgerschaft und zog mit der US-Armee in den Zweiten Weltkrieg. 1947 kehrte er aus Deutschland wieder in die USA zurück. Was begann, war ein kometenartiger Aufstieg vom Absolventen der Elite-Universität Harvard zu einem der mächtigsten Politiker, den Amerika und die Welt in den Nachkriegsjahren erleben sollten.

Als oberster Sicherheitsberater, später als Außenminister unter Richard Nixon pamperte Kissinger Militärdiktaturen in Südamerika und Afrika, suchte aber zeitgleich den öffnenden Kontakt zu den Kommunisten in China. In Vietnam beförderte er geheime Friedensverhandlungen mit dem kommunistischen Norden und ließ parallel im benachbarten Kambodscha kriegsverlängernd todbringendes Napalm regnen.

Dass er 1973 für den Friedensvertrag in Vietnam gemeinsam mit Le Duc Tho den Friedensnobelpreis erhielt, gilt vielen als zynische Laune der Geschichte. Kriegsverbrecher nannte ihn der wortgewaltige Brite Christopher Hitchens, auch ob der behaupteten Verwicklung in den Putsch gegen den Sozialisten Salvador Allende in Chile 1973 und verlangte, ihn vor Gericht zu stellen. Osttimor, Pakistan und Zypern finden sich ebenfalls im Sündenregister Kissingers, über den der preisgekrönte Washingtoner Enthüllungsjournalist Seymour Hersh einmal so brutal wie kein anderer schrieb: "Er lügt, wie andere Menschen atmen."

Henry Kissinger selbst empfand sich in erster Linie als kühl berechnenden Machtmenschen, der moralisches Sendungsbewusstsein, wie es zum amerikanischen Wesen gehört, weitgehend unterdrückte. Er erhob die Realpolitik zur Grundmelodie seiner politischen Arbeit. Kissinger, der überlang über Metternich promovierte, demonstrierte als Erfinder der Pendel-Diplomatie im Nahen Osten sein Rezept: Erlaubt ist, was zum Erfolg führen kann. In diesem Fall der Vertrag, der den Jom-Kippur-Krieg beendete.

Noch zu Amtszeiten erwarb sich Kissinger durch Charme, enzyklopädisches Wissen und Chuzpe den Status eines politischen Popstars. Er umgab sich mit Berühmtheiten wie Frank Sinatra und soll mehr als platonische Beziehungen mit Gina Lollobrigida und Zsa Zsa Gabor gehabt haben. Die Wahrheit fand nie jemand wirklich heraus. Kissinger spricht bis heute ungern über Privates. Er pflegt seinen Status als Rätsel.

Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Außenministers 1977 eröffnete der erste amerikanische Außenminister mit deutschen Wurzeln einen Geschäftszweig, der ihn bis heute ernährt und in den Schlagzeilen hält. Er machte seine Kontakte zu Geld, gründete ein weltweit agierendes Beratungsunternehmen und ist bei keinem Treffen der Mächtigen und Wichtigen nicht auf der Gästeliste.

Dass sein Urteil noch immer derart Gewicht hat, dass sich ihm die Türen der Regierungszentralen von selbst öffnen und die Berater-Honorare nur so sprudeln, mag trotzdem überraschen angesichts der Praktikabilität seiner Handreichungen. Wenn Henry Kissinger aus seinem intellektuellen Adlerhorst auf die Welt blickt, schrieb einmal ein amerikanischer Spötter, wirkt das amtierende politische Personal wie eine Ansammlung von Liliputanern, die nicht verstehen wollen, was Gulliver ihnen erzählen will. Mit "Weltordnung" wird es manchen Lesern vermutlich ähnlich ergehen.

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