Kommentar zur Justiz in der Türkei Hauptsache Druck auf Andersdenkende

Meinung | Istanbul · Die AKP von Präsident Erdogan war angetreten, um die Regierung von ideologischen Verhärtungen zu befreien. Stattdessen gilt nun die Devise: Hauptsache Druck auf Andersdenkende, kommentiert GA-Korrespondentin Susanne Güstel.

Innerhalb von 24 Stunden hat die türkische Justiz in zwei Verfahren demonstriert, dass es bei vielen politischen Prozessen nicht um die Suche nach der Wahrheit geht, sondern um Druck auf unbotmäßige Zeitgenossen. Im Prozess gegen die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ wurden Reporter und Verlagsmanager zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Handfeste Beweise konnte die Anklage nicht vorlegen. Fast gleichzeitig entschied ein anderes Gericht, dass die deutsche Übersetzerin Mesale Tolu mindestens bis zum Herbst nicht ausreisen darf. Auch hier gab es keine sachliche Begründung.

Entscheidungen wie diese sind zur Normalität geworden. Die Regierungspartei AKP von Präsident Erdogan war einst angetreten, um die ideologischen Verhärtungen im Staatsapparat aufzubrechen und internationale Normen zu verankern. Damals machte die säkularistisch eingestellte Justiz Jagd auf Islamisten; Erdogan selbst wurde ins Gefängnis gesteckt. Doch statt das alte System zu reformieren, hat die AKP die alten Zustände neu belebt, nur unter anderen Vorzeichen. Heute wie damals gilt die Devise: Hauptsache Druck auf Andersdenkende.

Das ist in erster Linie ein Versagen der türkischen Politik, doch auch europäische Institutionen tragen eine Verantwortung. Bis der Europäische Menschenrechtsgerichtshof über Einsprüche aus der Türkei entscheidet, vergeht so viel Zeit, dass die Beschlüsse aus Straßburg den Bedrängten wie den angeklagten Journalisten nicht mehr helfen. Die EU könnte die Türkei durch Gespräche über das Thema Rechtsstaat zwingen, Farbe zu bekennen, tut es aber nicht.

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