Interview mit Grünen-Chefin Annalena Baerbock Grüne kritisiert Nominierung von der Leyens

Berlin · Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock nennt die die Auswahl der EU-Kommissionspräsidentin ein "fatales Signal für die europäische Demokratie".

Frau Baerbock, hoffen Sie auf ein baldiges Ende der großen Koalition?

Annalena Baerbock: Es geht nicht ums Hoffen. Sondern ich erwarte, dass diese Regierung endlich ihren Job macht. Seit eineinhalb Jahren dreht sich die große Koalition nur um sich selbst, statt bei den Themen Klimaschutz, innovative Wirtschaftspolitik, Digitalisierung und bezahlbarer Wohnraum endlich anzupacken.

Die Grünen sagen ja, sie seien auf alles vorbereitet: Wie lange würden Sie eine Minderheitsregierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel mittragen?

Baerbock: Ich sehe überhaupt kein Szenario für eine Minderheitsregierung in Deutschland. Nochmal: Wir haben eine gewählte Regierung mit einem riesen Berg voller Aufgaben. Im Übrigen stimmen wir im Bundestag grundsätzlich nach Inhalten ab. Was wir für richtig halten, unterstützen wir. Was wir für falsch halten, dem stimmen wir nicht zu. Und so werden wir das auch in Zukunft machen.

Wenn die SPD aus der Regierung aussteigt, muss dann neu gewählt werden?

Baerbock: Wenn wir keine funktionsfähige Regierung mehr haben, muss neu gewählt werden. Denn dann braucht es eine neue Legitimation durch die Wählerinnen und Wähler.

Trauen Sie sich eine Kanzlerkandidatur zu?

Baerbock: Ich mache Politik, um Dinge zum Besseren zu verändern. Und zwar in der Funktion, die ich gerade habe. Ich bin derzeit Parteivorsitzende und damit sehr glücklich.

Parteichefs haben in aller Regel das erste Zugriffsrecht auf eine Kanzlerkandidatur – auch bei den Grünen?

Baerbock: Ich verstehe ihre Neugier, aber nochmal: Wir klären diese Frage, wenn sie ansteht.

Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat das Land geschockt. Sind die Nachrichtendienste auf dem rechten Auge blind?

Baerbock: Blind würde ich nicht sagen, aber offensichtlich gibt es ein gravierendes Problem bei der Erkennung, Beobachtung und Bekämpfung rechtsterroristischer Strukturen. Zum Teil hat man nicht nur nicht genau hingeschaut, sondern sogar weggeschaut…

…also doch auf dem rechten Auge blind…?

Baerbock: …Bundesinnenminister Seehofer hatte versprochen, den Verfassungsschutz vom Kopf auf die Füße zu stellen. Nur ist nichts passiert. Aus den Fehlern, die bei der Aufklärung des NSU, aber auch des Terroranschlags auf dem Berliner Weihnachtsmarkt gemacht wurden, muss die Regierung endlich Konsequenzen ziehen. Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit und besseren Informationsaustausch der Sicherheitsbehörden. Konkret: Eine Task Force, die rechtsextreme Strukturen endlich erkennt und Informations- und Hilfsangebote für Betroffene schafft.

Was muss passieren?

Baerbock: Das Bundesamt für Verfassungsschutz muss aufgespalten und neu aufgebaut werden, und zwar in zwei Behörden: Die Aufbereitung verfassungsfeindlicher Tendenzen mittels öffentlicher Quellen sollte zukünftig in einem eigenständigen Institut zum Schutz der Verfassung erfolgen. Die Aufklärung mit geheimdienstlichen Mitteln, da, wo man mit öffentlichen Quellen nicht weiterkommt, sollte in einem Amt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr erledigt werden. Da diese Methoden rechtstaatlich äußerst sensibel sind, muss ein solcher Geheimdienst sehr eng geführt und parlamentarisch streng kontrolliert werden. Auch gehört ein solches Amt direkt im Innenministerium angesiedelt.

Brauchen wir Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften, die gegen Hetze im Netz bis hin zu Morddrohungen vorgehen?

Baerbock: Ja. Schwerpunktstaatsanwaltschaften, gerade mit Blick auf Hetze und Extremismus im Netz, sind eine Möglichkeit. Darüber hinaus müssen wir die Strafverfolgungsbehörden und die Justiz aber insgesamt stärken, sowohl durch mehr Personal als auch durch entsprechende Schulungen. Auch bleibt völlig inakzeptabel, dass nach wie vor fast 500 rechtsextreme Straftäter frei herumlaufen, obwohl sie per Haftbefehl gesucht werden.

Agiert aktuell in Deutschland ein rechtes Terrornetzwerk?

Baerbock: Der Prozess gegen Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) hat offen gelegt, dass es weiter große Unklarheit darüber gibt, auf wie viele Unterstützer der NSU zurückgreifen konnte. Der Frage, ob Netzwerke bis heute fortbestehen, müssen wir endlich in aller Entschlossenheit nachgehen. Der Mord an Walter Lübcke ist ein Angriff auf die Demokratie. Die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern müssen ihre Arbeit machen.

Bundestagspräsident Schäuble sagt, die Seenotretter beförderten das Geschäft der Schlepper. Sehen Sie das auch so?

Baerbock: Ich finde das zutiefst zynisch. Es verdreht Ursache und Wirkung. Die Staats- und Regierungschefs Europas tragen eine Mitverantwortung für die Situation von Carola Rackete und dem dramatischen Umstand, dass Schiffe mit geretteten Menschen an Bord nicht in einen sicheren Hafen laufen können. Es bräuchte die zivile Seenotrettung nicht, wenn es endlich wieder eine europäische Seenotrettung geben würde. Wer sich einredet, dass es ohne Seenotrettung keine Schleuser und keine Menschen gäbe, die über das Mittelmeer flüchten, der hat noch nicht die Dramatik in den Lagern Libyens verstanden. Schlepper werden sich immer mit ihrem Geschäft den ändernden Bedingungen in Europa anpassen.

Würden Sie eine andere Seenotrettungspolitik und eine großzügigere Aufnahme von Flüchtlingen in eine Koalitionsvereinbarung für ein Regierungsbündnis schreiben?

Baerbock: Mit jedem Toten im Mittelmeer geht ein Stück der europäischen Werte unter. Ja, deswegen sehe ich es nicht nur als politische Pflicht, dass die Bundesregierung endlich handelt, sondern auch für rechtlich geboten. Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Recht auf Schutz leiten sich direkt aus den Grundwerten Europas ab. Ohne eine europäische Seenotrettung und eine solidarische Verteilung der Geflüchteten werden wir diesen Werten nicht gerecht.

Was halten Sie von der Nominierung von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin der Europäischen Union?

Baerbock: Viele Menschen haben dem Aufbruch in Europa und einem Europäischen Parlament bei der Europawahl ihre Stimme gegeben. Dass nun doch wieder die nationalen Regierungen den Ton angeben und mit dem Prinzip der Spitzenkandidaten brechen, halte ich für ein fatales Signal für die europäische Demokratie, ganz unabhängig von der Person. Diese Art von Politik ist nicht nur von gestern, sie verhindert auch die dringend notwendige Stärkung eines demokratischen und transparenten Europa, wofür wir Grünen eingetreten sind.

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