Was allzu originell ist, trifft auf Widerstand Ganz schön schräg

BONN · Albert Einstein hätte keine Chance. Der Mann, der als Prototyp des genialen Wissenschaftlers gilt, würde im heutigen akademischen Betrieb höchstwahrscheinlich kein Bein auf den Boden kriegen. Seine Ideen: zu abseitig und zum Teil im krassen Widerspruch zu den Auffassungen der zeitgenössischen Physik.

 Ausgerechnet der ungewöhnliche, weil schiefe Turm von Pisa steht für standardisierte Schülertests.

Ausgerechnet der ungewöhnliche, weil schiefe Turm von Pisa steht für standardisierte Schülertests.

Foto: dpa

Die Wissenschaft würde dem eigenwilligen Forscher keine Nische bieten, in der er sich ungestört entfalten könnte. Genauso ginge es wohl Galileo Galilei mit seiner Idee von der Sonne als Mittelpunkt eines Planetensystems. Einst musste er arge Schelte einstecken, heute würde er vermutlich gar nicht beachtet, seine Entdeckung keine Wirkung entfalten.

Diese These vertritt zum Beispiel Julian Nida-Rümelin, Philosoph, Physiker, Mathematiker und Politikwissenschaftler, 2001 und 2002 Kulturstaatsminister bei Bundeskanzler Gerhard Schröder. "Das, was sich im Rahmen des Erwarteten bewegt, was sich auf die relevante und anerkannte Literatur stützt und allenfalls einen zusätzlichen originellen Gedanken entwickelt, das hat am meisten Chance auf problemlose Publikation", sagt er.

Was quer zu den gerade akzeptierten Meinungen stehe, was sich nur unzureichend auf die als relevant erachtete Fachliteratur stütze, was allzu originell sei, treffe auf Widerstand. Nida-Rümelins Überzeugung: "Keiner der bahnbrechenden frühen Aufsätze Einsteins wäre unter den heutigen Bedingungen in einer der international führenden physikalischen Zeitschriften erschienen." Wenn aber Wissenschaft Wissenschaftler mit ungewöhnlichen, aber genialen Ideen nicht fördert, sondern sie sogar behindert, dann ist etwas faul im System.

Albert Einstein würde wohl auch in einer anderen wichtigen Disziplin heutiger Wissenschaftler eine schlechte Figur machen: der Werbung von Drittmitteln. Gerade apparateintensive Fächer wie Physik, Biologie oder Chemie sind darauf angewiesen, Forschungsmittel einzuwerben.

Der Mechanismus: Ein Forscher hat eine Idee, ihm fehlen aber die Mittel, daran zu forschen, weil das Budget seiner Hochschule - heutzutage der Normalfall - nicht ausreicht. Also beantragt er bei "Dritten" - staatlichen Forschungseinrichtungen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, privaten Stiftungen, Wirtschaftsunternehmen oder Gewerkschaften - Mittel, um die Forschungen zu finanzieren.

Nur: Oft verselbstständigt sich die Sache. Wissenschaftler werden zu Managern, die Institute von der Größe mittelständischer Unternehmen betreiben. Die Einwerbung von Drittmitteln wird zum Selbstzweck, um dieses Unternehmen am Laufen zu halten, die Forschung quasi zur Nebensache. Umgekehrt gilt die Höhe der eingeworbenen Drittmittel bereits als Indikator für wissenschaftliche Leistungsfähigkeit.

Entscheidungen über Karrieren und Lehrbetriebe drohen abhängig zu werden von den Erfolgen im Drittmittelgeschäft. Was Innovationen geradezu konterkariert: Beliebt bei Geldgebern sind Projekte, die "smart" formuliert sind, also solche, deren Ziele messbar, ausführbar, realistisch und terminierbar formuliert sind.

Obwohl Ziele in der Wissenschaft selten solchen Ansprüchen genügen und diese Maßstäbe auch nicht sinnvoll sind, erhält alles, was messbar ist, in der Folge besondere Aufmerksamkeit: die veröffentlichten Artikel, die eingeschriebenen Studenten etwa. Und: Die Geldgeber mindern die Forschungsfreiheit, nehmen Einfluss auf die Forschungsgegenstände.

Milliarden sind etwa in die Suche nach einer Möglichkeit investiert worden, Energie zu speichern - die Aufbewahrung der unendlich strömenden Sonnenenergie in einer Art Akku wäre Lösung für einen Großteil unserer Probleme. Nur: Erfolg war diesen Bemühungen bislang nicht beschieden. "Man hat den Eindruck", sagt Hermann-Josef Wagner, Professor für Energiesysteme an der Universität Bochum, "dass der große Durchbruch vielleicht nur durch zufällige Entdeckungen in der Grundlagenforschung kommen könnte."

Eine Reihe von Wissenschaftlern sei überzeugt, "unsere Forschungsstrukturen sind nicht mehr geeignet, um derartige Durchbrüche zuzulassen, weil zumindest in der Energieforschung fast nur noch anwendungsbezogen geforscht wird". Eine weitere Gängelung der Hochschulen, wie sie aktuell in Nordrhein-Westfalen durch das geplante neue Hochschulgesetz droht, dürfte die ohnehin schon wenig erfreuliche Lage noch verschärfen.

Wissenschaft braucht Querdenker, sie war immer dann am erfolgreichsten, wenn die Forscher nicht ihre Karriere verfolgten, sondern eigene, oftmals eigenwillige Ideen - und häufig setzten gerade solche Menschen das Weltbild und die Gesellschaft verändernde Impulse, die bei ihren Zeitgenossen auf Widerstand trafen. Albert Einstein und Galileo Galilei sind Beispiele dafür, Charles Darwin ebenfalls. Vor allem Theologen liefen Sturm gegen seine Idee, dass die Arten nicht von Gott erschaffen seien, sondern sich mit der Zeit selbst entwickelt hätten.

Gleichmacherei ist also, so scheint es, der Feind des Fortschritts. Aber schreitet nicht gerade sie in unserer mehr und mehr globalisierten Gesellschaft ständig voran? Selbstoptimierung und wie man sie erlangen kann, nimmt den größten Raum in der Ratgeberliteratur ein. Aber sind wir nicht alle am Ende gleich - gleich optimal und gleich langweilig -, wenn wir uns nach den allgemein anerkannten Maßstäben zu unserem angeblich Besten verändern? Schon regt sich Widerstand. Rebecca Niazi-Shahabi plädiert in ihrem Buch mit dem bemerkenswerten Titel "Ich bleib so scheiße, wie ich bin" dafür, Schluss zu machen mit der Selbstoptimierung.

Auch äußerlich wird die Gleichmacherei indes zunehmend spürbar. Ist es nur eine optische Täuschung, dass junge Mädchen heute ausschließlich glattes, langes Haar haben? Scheint es nur so oder hätten Politiker wie Herbert Wehner oder auch sein ewiger Kontrahent Franz Josef Strauß heute keine Chance mehr im Politikbetrieb mit seinen smarten Vertretern? Wie man auch zu ihr stehen mag: Claudia Roth mit ihren schrillen Farben wurde verdrängt von einer glattgeföhnten Katrin Göring-Eckardt. Zufall?

Innenstädte gleichen sich inzwischen nicht nur in Deutschland, sondern weltweit mit den sich überall breit machenden Ketten. Blömer, Boecker, Bouvier? In Bonn Vergangenheit. Die aktuell größte Buchhandlung der Stadt wirbt nicht mit der Kompetenz einer Universitätsbuchhandlung, sondern präsentiert in ihrem Eingangsbereich wenige Bücher und viele zur jeweiligen Jahreszeit passende Präsente.

Und wieder die Bildung: PISA heißen die internationalen Schulleistungsstudien, die alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten 15-Jähriger messen sollen. Besonders frankophone Autoren kritisieren das utilitaristische Bildungsziel, das dahinter steckt. Der Druck, Lehrpläne in Richtung alltagsrelevanter Fertigkeiten anzupassen, bedrohe etwa die Spezifität des französischen Mathematikunterrichts, der großen Wert auf strenge Beweise legt.

Und der Bologna-Prozess. Er zielt auf eine europaweite Harmonisierung von Studiengängen und -abschlüssen - und auf sogenannte Beschäftigungsfähigkeit am Arbeitsmarkt. Schön und gut: Aber lässt dieser Konformismus innovative Querdenker überhaupt noch zu, geschweige denn, dass er sie unterstützt? Eher nicht. Und so gilt es, unsere Bildungs- und Wissenschaftsstrukturen auf den Prüfstand zu stellen, damit möglich wird, was Nida-Rümelin so formuliert: "Wir sollten uns bemühen, die kräftigsten intellektuellen Potenzen für die Wissenschaft zu gewinnen, darunter auch solche, die Abseitiges zu behaupten scheinen."

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