Der Brexit und die Folgen Es gibt nur Verlierer

Brüssel/London · Die Briten würden bei einem Ausstieg aus der Europäischen Union weitaus mehr draufzahlen als die Unternehmen des Kontinents.

Europa ist sich sicher: Die Briten würden einen Brexit vor allem aus wirtschaftlichen Gründen schneller bereuen, als ihnen lieb ist. „Die meisten großen Wirtschaftsverbände auf dem Festland schweigen vor allem deshalb, weil sie ahnen, dass ein Ausstieg Großbritanniens aus der EU ihnen Vorteile auf dem Markt einbringen würde“, sagt ein führendes Mitglied des Europäischen Parlamentes. Sein Beispiel: Die britischen Banken würden praktisch von heute auf morgen von dem innereuropäischen Netz der Geldinstitute abgekoppelt.

„Da wittern einige Häuser in den 27 verbleibenden Ländern Lücken, in die sie hineinstoßen werden.“ Konkret ist die Rede vom Umzug des Euro-Abrechnungssystems, das nach dem Willen der Europäischen Zentralbank (EZB) künftig nur noch in einem Mitgliedstaat der Währungsunion residieren darf. „Derzeit werden auf der Insel pro Jahr Wertpapiergeschäfte im Wert von 130 000 Milliarden Euro pro Jahr über so genannte Euro-Abrechnungssysteme abgewickelt.

Nach einem Brexit, das hat die Europäische Zentralbank bereits angekündigt, sollen diese zentralen Systeme in die Währungsunion zurückgeholt werden. Nach Berechnungen der EZB würden dadurch Geschäfte mit einem Handelsvolumen von bis zu 840 Milliarden Euro aus London abgezogen, eine Vielzahl europäischer und nicht-europäischer Geldinstitute würde oder müsste wohl den britischen Finanzplatz verlassen.

London gingen fast 34 Prozent des britischen Bruttoinlandsproduktes verloren, das BIP des Euro-Raums könnte um acht Prozent in die Höhe schnellen. Das britische Pfund werde, so sagen Experten, bis zu 34 Prozent gegenüber dem Euro verlieren. Natürlich wird diskutiert, gestritten, miteinander gerungen. Die Debatte um Europa hat längst den Pub erreicht – nicht nur, dass in der ur-britischsten Institution derzeit jedes Gespräch zum Pint Pale Ale bei einem möglichen Brexit, einem Austritt des Königreichs aus der EU, endet.

In mehr als 900 Pubs liegen auch Bierdeckel aus, die fürs Gehen werben und dabei die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, attackieren. Diese meint, die Auswirkungen eines Austritts wären „ziemlich schlimm bis sehr, sehr schlimm“. Auf den knallroten Bierdeckeln heißt es dagegen: „Wir müssen die Kontrolle zurückbekommen.“ Hinter der Kampagne steckt Tim Martin, der Gründer der Pub-Kette JD Wetherspoon.

Drittgrößter Auto-Hersteller der EU

Doch so selbstbewusst wie der Unternehmer sehen die Situation nur wenige in der Geschäftswelt des Königreichs. Es sind vor allem kleine und mittelständische Firmen, die mit dem Austritt liebäugeln. Für sie ist der freie Zugang zum europäischen Binnenmarkt weniger bedeutend. Dagegen geht in den Konferenzräumen und Produktionsstätten von Banken, Großunternehmen und Verbänden die Angst um. Denn die EU ist der wichtigste Exportmarkt für die britische Wirtschaft.

Rund 45 Prozent der Waren und Dienstleistungen gehen über den Ärmelkanal und nach Irland. Und so schrieben die Auto-Hersteller in den vergangenen Jahren eine wahre Erfolgsgeschichte auf der Insel. 1,6 Millionen Fahrzeuge liefen nach Angaben des Verbandes der britischen Autoindustrie (SMMT) im Jahr 2015 vom Band. Davon landeten mehr als 1,2 Millionen im Ausland.

Nach Deutschland und Spanien ist das Königreich der drittgrößte Auto-Hersteller der EU – dank Investoren aus der Fremde. Ob beim japanischen Konzern Nissan, bei Jaguar Land Rover, den BMW-Töchtern Mini und Rolls-Royce oder bei Bentley, das zu Volkswagen gehört: „Teil Europas zu sein, ist entscheidend für die Zukunft dieser Industrie und um Jobs, Investments und Wachstum zu sichern“, sagte der SMMT-Chef Mike Hawes.

Unternehmen wie der Luftfahrt- und Rüstungskonzern Airbus oder der weltweit zweitgrößte Triebwerksbauer Rolls-Royce empfahlen ihren Mitarbeitern, für eine Zukunft in der EU zu stimmen. Im Falle eines Brexits werde Rolls-Royce Entscheidungen über Investitionen in Großbritannien zunächst auf Eis legen.

„Wir alle müssen im Hinterkopf behalten, dass künftige Investitionen sehr stark von dem wirtschaftlichen Umfeld abhängen, in dem das Unternehmen tätig ist“, hieß es von Airbus. Schon im Februar warnten die Chefs von mehr als einem Drittel der großen britischen Unternehmen, darunter Shell und BP, dass bei einem Abschied aus der EU Arbeitsplätze und Investitionen aufs Spiel gesetzt würden. Mit 80 Prozent glaubt zudem der überwiegende Teil der Mitglieder der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer, dass sich ein Brexit negativ auf ihr Unternehmen auswirken würde.

Auch die mächtige Finanzbranche ist mehrheitlich pro-europäisch eingestellt. In der Londoner City, Europas größtem Finanzplatz, sitzen viele ausländische Banken, die von der Themse aus Kunden auf dem ganzen Kontinent bedienen – was nach einem Brexit ungleich schwieriger werden würde.

"Sofortiger und heftiger Schock"

Aus den Fluren der Banken ist zu hören, man habe Notfallpläne in der Schublade. Würden Institute nach Paris oder Frankfurt ziehen? Allein im Bankensektor könnten mehr als 50 000 Stellen wegfallen, so Paola Subacchi vom politischen Thinktank Chatham House in London. Angeblich würden 80 Prozent der europäischen und 50 Prozent aller nicht-europäischen Geldinstitute, die derzeit an der Themse logieren, die Insel nach einem Brexit verlassen.

Glaubt man der überwältigenden Mehrheit der Experten, sind die Aussichten düster: So würde ein Ausstieg das Land in eine lange Rezession stürzen und die Wirtschaft innerhalb von zwei Jahren mindestens eine halbe Million Jobs kosten, wie eine Studie des britischen Finanzministeriums ergab. Er würde einen „sofortigen und heftigen Schock“ auslösen, warnte Schatzkanzler George Osborne und hat bereits gedroht, nach einem Sieg der Brexiteers müsse er die Steuern erhöhen und Ausgaben kürzen.

Seine Gegner wiegeln ab, doch auch Volkswirte erwarten einen Konjunktureinbruch. Immerhin wären zu viele Fragen offen: Zu welchen Bedingungen können künftig Geschäfte mit dem Kontinent gemacht werden? Wie sehen die Handelsabkommen aus? Wann werden sie geschlossen? Die Ungewissheit würde die Wirtschaft schwer belasten und Investitionen sowie Neu-Einstellungen verzögern.

Zudem halten es viele für Wunschdenken, dass die Briten allein bessere Handelsverträge mit anderen Staaten aushandeln können als die EU. Das Wirtschaftsargument gilt als das stärkste der EU-Freunde auf der Insel. Und prominente Unterstützung erhielten sie nicht nur von internationalen Organisationen wie der OECD oder dem IWF, sondern auch von Notenbank-Chef Mark Carney. Der Kanadier, der seit drei Jahren die britische Zentralbank führt, warnte, ein EU-Austritt stelle eines der größten Risiken für die Stabilität des britischen Finanzsystems dar.

Verluste verteilen sich auf mehrere Staaten

Der führende Unternehmensverband des Landes, CBI, sieht durch den EU-Austritt fast eine Million Arbeitsplätze bedroht. Als „Angstmacherei“ schmettert die „Leave“-Kampagne solche Prognosen regelmäßig ab und ist dazu übergegangen, die Experten-Meinungen einfach anzuzweifeln. Haben damals, vor der Finanzkrise, nicht alle diese Autoritäten versagt, als es darum ging, den Crash im Jahr 2008 vorherzusehen?

Doch schon jetzt hat das britische Pfund – nachdem Umfragen auf eine Mehrheit für den Brexit hindeuteten – seit Ende Mai gegenüber dem Euro mehr als vier Prozent an Wert verloren. Der Devisenmarkt wird als empfindlichstes und aussagekräftigstes Stimmungsbarometer gesehen. Bei einem Brexit „können britische Familien nur verlieren, und das sollten wir nicht riskieren“, sagte vor wenigen Tagen Schatzkanzler Osborne.

Experten rechnen mit erheblicher Verunsicherung und Stimmungsschwankungen der Akteure. Vorboten zeigen die Aktienkurse der letzten Wochen. Dabei fallen die wirtschaftlichen Konsequenzen für die Rest-EU in allen Studien deutlich geringer als zunächst befürchtet aus – und vor allem wesentlich erträglicher als für die Unternehmen auf der Insel. Rund die Hälfte des britischen Konsums wird aus der EU importiert. Dieser Wegfall schmerzt, aber die Verluste verteilen sich auf mehrere Staaten. Die wesentlichen Folgen – so heißt es beispielsweise in einer Studie des Bertelsmann-Konzerns – würden dadurch ausgelöst, dass nach einem Brexit die vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes (freier Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr) für die Insel nicht mehr gelten.

Außerdem ist noch unklar, ob die derzeit geschlossenen 38 Handelsverträge der EU (zwölf weitere befinden sich noch in der Verhandlungsphase) in Kraft bleiben. Unabhängig von der Frage, ob es am Ende der Brexit-Gespräche zu einem weichen oder harten Schnitt zwischen dem Kontinent und den Briten kommt – in einem Punkt sind sich alle Untersuchungen einig: Die Preise für Waren und Dienstleistungen aus dem Vereinigten Königreich werden steigen. Die Nachfrage wird damit sinken.

Die neue Abschottung der britischen Volkswirtschaft dürfte sie 0,6 bis drei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes kosten, während zum Beispiel Deutschland im Zeitraum bis 2030 lediglich eine kleine Delle von 0,1 bis 0,3 Prozent hinnehmen müsste. Der Grund für dieses Ungleichgewicht: Während London lange brauchen wird, um die wegfallenden Handelspartner zu ersetzen, haben die europäischen Partner damit weniger Probleme.

Albtraum für die deutschen Exporteure

Dennoch täuschen diese Zahlen über das Ausmaß der errechneten Einschnitte. Denn ein Ausstieg der Briten aus der EU ist ein Albtraum für die deutschen Exporteure: Sie gehen von Verlusten aus, die bis 2019 an die sieben Milliarden Euro betragen dürften – im Fall eines harten Ausstiegs ohne neues Handelsabkommen (das wird es natürlich geben, allerdings muss die EU erst den Vollzug des Brexits in zwei Jahren abwarten, da sie nur mit Nicht-EU-Staaten Handelsabkommen beschließen darf).

Damit stünde die deutsche Wirtschaft als der größte Verlierer da, der doppelt so hohe Einbußen wie die Chinesen oder Niederländer mit Verlusten von rund 3,2 Milliarden Euro zu verzeichnen hätte. Besonders betroffen wären vor allem die deutschen Vorzeigebranchen: die Automobilindustrie, der Maschinenbau und der Chemiesektor. Ludovic Subran, Chefvolkswirt der Euler-Hermes-Gruppe, beschreibt die Konsequenzen so: „Wir erwarten für diesen Fall allein durch den Brexit einen Anstieg der Insolvenzen in Deutschland um zusätzlich 1,2 Prozentpunkte.“

Dennoch wäre eine solche Entwicklung für Deutschland verkraftbar. Härter träfe es wohl die Niederlande, Belgien und Frankreich, wo die Studien bis 2019 infolge der Einbrüche von 2,5 Prozent zusätzlichen Pleiten ausgehen.

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