Interview mit Arbeitsmarktexperte Alexander Spermann "Es geht auch mit weniger Bürokratie"

Die Gewerkschaften feiern gesetzlichen Mindestlohn und Rente mit 63 am heutigen Tag der Arbeit als große Errungenschaften. Alexander Spermann vom Institut zur Zukunft der Arbeit in Bonn warnt dagegen vor den Spätfolgen der Regelungen.

 Kaum negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat bisher der Mindestlohn: Fensterputzer bei der Arbeit.

Kaum negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat bisher der Mindestlohn: Fensterputzer bei der Arbeit.

Foto: dpa

Mit Spermann sprachen Ulrich Lüke und Kai Pfundt.

Ist dieser 1. Mai eher Arbeiterfeiertag oder Arbeiterkampftag?

Alexander Spermann: Wenn man heute nicht feiern kann, wann dann? Wir haben eine Rekordbeschäftigung in Deutschland, geringe Arbeitslosigkeit, eine relativ hohe Arbeitszufriedenheit. Natürlich gibt es immer Probleme, aber das Gesamtbild ist eher zum Feiern als zum Kämpfen.

Stichwort Mindestlohn: Vor der Einführung gab es erhebliche Warnungen von Ökonomen, auch von Ihrem Institut. War das viel Lärm um Nichts?

Spermann: Nein. Der Lärm des vergangenen Jahres hat dazu geführt, dass das Mindestlohngesetzt so ausgestaltet wurde, dass der Schaden geringer ausfällt, als er hätte ausfallen können. Wir haben jetzt Ausnahmen für Langzeitarbeitslose und für Praktikanten, es gibt eine Übergangsphase von zwei Jahren für bestimmte Branchen. Zusammen mit der brummenden Konjunktur führt all das dazu, dass am Arbeitsmarkt kaum Bremsspuren zu beobachten sind - zumindest zum jetzigen Zeitpunkt.

Welche Auswirkungen des Mindestlohns können Sie denn schon jetzt beobachten?

Spermann: Eine ganze Reihe von Arbeitnehmern bekommen jetzt mehr Geld, ohne dass sie ihren Job verlieren. Das ist positiv. Wir beobachten aber auch einen Rückgang der Minijobs, wobei wir nicht wissen, ob sie verschwunden sind oder umgewandelt wurden in reguläre Stellen - oder ob jetzt Maschinen die Arbeit machen.

Aber die prognostizierten negativen Auswirkungen sind bislang ausgeblieben. Oder ist es noch zu früh für eine Bewertung?

Spermann: Was wir zurzeit beobachten, sind noch Einzelfälle. Aber es gibt durchaus Strategien der Arbeitgeber, ihre Lohnkosten zu senken: Mitarbeiter werden zu unbezahlten Überstunden genötigt, Beschäftigte werden in die Selbstständigkeit gedrängt, es werden Werk- und Dienstverträge abgeschlossen oder die zu erbringende Leistung pro Arbeitsstunde wird heraufgesetzt. Aber ob und in welchem Ausmaß dafür der Mindestlohn verantwortlich ist, können wir noch nicht sagen.

Können Sie die Klagen der Unternehmen über einen Auswuchs an zusätzlicher Bürokratie nachvollziehen?

Spermann: Wenn Sie einen Mindestlohn einführen, dann müssen Sie seine Einhaltung überprüfen. Anders macht es keinen Sinn. Dass Sie dafür entsprechende Kontrollinstrumente brauchen, ist eine logische Konsequenz. Sicher lässt sich aber das sinnvolle Ziel der Kontrolle auch mit weniger Bürokratie erreichen.

Und wenn es konjunkturell mal wieder abwärts geht?

Spermann: Dann kommt es für den Mindestlohn zum Lakmustest. Gering qualifizierte Arbeit wird unter Druck geraten über den Mehreinsatz von Maschinen oder die Verlagerung ins Ausland. Dass die Arbeitslosigkeit besonders für gering Qualifizierte dann steigt, ist eine reale Gefahr.

Eine andere soziale Wohltat der Koalition ist die Rente mit 63. Steuern wir damit in die richtige Richtung?

Spermann: Im Gegenteil. Fast 300 000 Beschäftigte haben schon jetzt Anträge für eine frühere Rente gestellt. Statt einer Vorruhestandsregelung bräuchten wir Anreize, länger zu arbeiten. Schon jetzt stagniert die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer - ein völlig falsches Signal in einer Zeit steigender Lebenserwartung.

Wie sollen die Anreize für längere Arbeit aussehen?

Spermann: Die Menschen müssen wissen, dass es sich für sie rechnet. Es gibt zwar auch heute schon solche Anreize wie die Rentenzuschläge, aber die sind weitgehend unbekannt. Wir brauchen da mehr Transparenz.

Sind feststehende Altersgrenzen für den Renteneintritt überhaupt noch zeitgemäß?

Spermann: In unserem Rentensystem ist eine feste Grenze durchaus sinnvoll. Dass dieses System flexibel sein kann, wenn es sein muss, zeigt ja die Anhebung der Rentengrenze auf 67 Jahre.

Sind Beschäftigte und Gewerkschaften eigentlich auf den Wandel der Arbeitswelt vorbereitet, Stichwort Arbeit 4.0?

Spermann: Ich spüre ein großes Problembewusstsein bei dem Thema in der Politik, bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Man setzt sich mit dem Thema auseinander, auch wenn keiner umfassende Lösungen hat. Man sieht die Risiken, aber durchaus auch die Chancen.

Was verstehen Sie denn unter Arbeit 4.0?

Spermann: Nach dem Grünbuch, das Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles herausgegeben hat, bedeutet Arbeit 4.0, dass die Beschäftigung vernetzter, digitaler und flexibler wird.

Und was bedeutet das konkret? Wie werden wir dann im Jahr 2025 arbeiten?

Spermann: Schon heute ist für die Dienstleistungselite maximal flexible Arbeit möglich. Wo die Beschäftigten arbeiten, ist egal: im Café, in der Bahn, am Schreibtisch, zu Hause. Über mobile Geräte sind sie immer erreichbar und können selbst kommunizieren, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Dieser Trend wird sich verstärken, Arbeits- und Freizeit werden sich vermischen. Die heute geltenden Regelungen etwa zur Frage, was ein Arbeitsplatz oder was Arbeitszeit ist, werden nicht mehr greifen. Zu Recht fragt die Arbeitsministerin, ob wir unser Leitbild der Arbeit überdenken müssen.

Wird das auch den klassischen Industriearbeiter betreffen?

Spermann: Natürlich, auch wenn es sich um eine schleichende Entwicklung handeln wird. Nehmen sie den Automobilbau. Der Einsatz von Robotern wird zunehmen, diese werden größere Fähigkeiten haben. Aber die Programmierung und Steuerung muss nicht mehr zwangsläufig vor Ort stattfinden, sondern kann über mobile Geräte auch ganz woanders geschehen. Das bedeutet freilich nicht, dass es den klassischen Industriearbeitsplatz gar nicht mehr geben wird.

Zur Person

Alexander Spermann ist Direktor für Arbeitsmarktpolitik Deutschland am Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA). Spermann unterrichtet zudem seit fünfzehn Jahren als Privatdozent an der Uni Freiburg. Zwischen 2007 und 2014 war er Direktor beim Leiharbeitsunternehmen Randstad Deutschland und davor Mitarbeiter am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim.

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