"Als die Soldaten kamen" Ende eines Tabu-Themas: Vergewaltigungen bei Kriegsende

Berlin · Die Russen haben vergewaltigt, die Amerikaner mit Geschenken betört: So dachte man über das, was vielen Frauen vor 70 Jahren am Ende des Zweiten Weltkriegs geschah. Eine Historikerin sieht das ganz anders.

 Eine Frau geht in einer Straße in Dresden an Häusern vorbei, von denen nach Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg nur noch Ruinen geblieben sind.

Eine Frau geht in einer Straße in Dresden an Häusern vorbei, von denen nach Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg nur noch Ruinen geblieben sind.

Foto: dpa

Jede Nacht rief die Frau in der Psychiatrie um Hilfe. Doch keiner konnte sich ihre Schreie erklären. Erst Jahre später stießen die Ärzte auf den mutmaßlichen Grund: In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs war sie in der Nähe von Freiburg vergewaltigt worden. Fünf französische Soldaten hatten sie so misshandelt, dass sie schwer verletzt ins Krankenhaus kam - und schließlich in der Psychiatrie landete.

Es ist eines von Hunderttausenden ähnlichen Frauenschicksalen am Ende des Krieges, das sich nun zum 70. Mal jährt. Es steht neben den grausamen Schicksalen von Millionen Toten und anderen Opfern, die Nazi-Deutschland in ganz Europa und darüber hinaus hinterlassen hat. Wohl auch deshalb wurden die massenhaften Vergewaltigungen durch alliierte Soldaten jahrzehntelang verdrängt, tabuisiert, vergessen.

Erst seit einigen Jahren hat das ein Ende. Die Konstanzer Historikerin Miriam Gebhardt hat sich des Themas nun in einer breiten wissenschaftlichen Aufarbeitung angenommen. An diesem Dienstag stellt sie in Berlin ihr Buch "Als die Soldaten kamen - Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Krieges" vor.

"Viele Frauen schwiegen aus Scham oder Angst"

Die Frauen schwiegen über das Durchlebte aus Scham, selbst in den Familien wurde kaum darüber geredet. Wenn das Thema öffentlich überhaupt erörtert wurde, dann mit Blick auf "die Russen". Etwas überspitzt gesagt, galt: Die Russen haben sich die Frauen mit Gewalt genommen, die Amerikaner sie mit Geschenken betört.

Mit dieser Perspektive räumt Gebhardt nun auf. Anhand vieler Quellen wie Berichten von Pfarrern, Ärzten und Militärrichtern belegt sie, dass Soldaten aller Besatzungsmächte vergewaltigten.

Allerdings ragt auch nach ihren Recherchen die Rote Armee in dieser unrühmlichen Statistik heraus. Und dies obwohl Gebhardt die von der Filmemacherin Helke Sander in den 90er Jahren genannte Zahl von mehr als zwei Millionen Frauen bezweifelt, die von Sowjetsoldaten vergewaltigt worden sein sollen.

Gebhardt spricht von etwa einer halben Million; die Zahl der Vergewaltigungen durch Amerikaner schätzt sie auf etwa 190 000. Insgesamt kommt sie - in allerdings umstrittenen Berechnungen - auf etwa 860 000 deutsche Frauen, die von Besatzungssoldaten vergewaltigt wurden.

[info]Das Vorgehen amerikanischer, britischer und französischer Soldaten unterschied sich dabei kaum von dem der Rotarmisten: Häuser wurden beschlagnahmt und geplündert, dann fielen die Soldaten oft in Gruppen über die Frauen her. Besonders aus Bayern gibt es Berichte etwa von Pfarrern, die sich über brutale Übergriffe von US-Soldaten beklagten.

Schon vor ein paar Jahren hat die Journalistin Maximiliane Saalfrank ähnliche Quellen aus der Diözese München-Freising öffentlich gemacht. Und recherchiert, dass sich hinter manch einem scheinbar zusammenhanglosen Sterberegister-Eintrag - wie in Bad Reichhall "Tod durch Ertrinken infolge eines Nervenzusammenbruchs" - die Selbsttötung einer von Soldaten vergewaltigten Frau verbirgt.

Den Taten sahen die Armeeführungen nur unmittelbar beim Vormarsch und in den ersten Tagen danach tatenlos zu - und zwar im Westen wie im Osten. Später bestraften die Besatzer Vergewaltiger aus den eigenen Reihen hart, auch mit dem Tod.

Bis in Deutschland seriöse Berichte und Untersuchungen zu dem Thema erschienen, hat es Jahrzehnte gedauert, im Grunde bis nach der Wiedervereinigung. In der DDR war es schon gefährlich, über die Verbrechen der Befreier und "Waffenbrüder" - weiterhin zu Tausenden dort stationiert - auch nur zu sprechen; sie öffentlich zu machen, war unmöglich.

Im Westen Deutschlands wurde über die Nazi-Zeit und die unmittelbare Nachkriegszeit zunächst komplett geschwiegen, später stand die Aufklärung der deutschen Verbrechen im Mittelpunkt. Hinweise auf Schandtaten der Alliierten galten als Relativierung der eigenen Schuld: Hatte die Nation von Auschwitz solche "Strafaktionen" nicht geradezu heraufbeschworen?

Eine erste Bresche in die Mauer des Schweigens schlug Helke Sander 1992 mit ihrem Film "Befreier und Befreite". Darin thematisierte sie die Massenvergewaltigungen der Roten Armee. Doch sie erntete neben manchem Lob auch noch heftige Kritik.

Dem Massenpublikum wurde das Thema erst Anfang der 2000er Jahre bewusst, mit dem autobiografischen Buch jener Frau, die als "Anonyma" die sowjetische Besetzung Berlins schilderte.

Bezeichnend für den Umgang mit dem Thema ist das Schicksal des Buches selbst: Es erschien bereits 1954 auf Englisch, einige Jahre später auf Deutsch, wurde aber völlig ignoriert. Erst bei der Neuauflage 2003, zwei Jahre nach dem Tod der Autorin Marta Hillers, wurde es ein Erfolg - und 2008 mit Nina Hoss in der Hauptrolle verfilmt.

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