Interview mit Rudolf Baum "Eine Politik der Abschreckung ist nicht verantwortbar"

Wir können uns der Verantwortung für die Flüchtlinge nicht entziehen, sagt der frühere Bundesinnenminister und FDP-Politiker Gerhart Rudolf Baum.

 Gerhart Rudolf Baum.

Gerhart Rudolf Baum.

Foto: dpa

Mit ihm sprach Lutz Warkalla.

Herr Baum, das Mittelmeer wird zum Massengrab: Was läuft falsch in der EU-Flüchtlingspolitik?

Gerhart Rudolf Baum: Erstens müsste die EU die Mittel, die zur Rettung von Flüchtlingen zur Verfügung stehen, verstärken. Sie müsste das von Italien bis zum vergangenen Jahr finanzierte Programm Mare Nostrum wiederaufnehmen. Zweitens braucht Italien dringend Unterstützung bei der Aufnahme der Flüchtlinge, etwa in Lampedusa. Und drittens müsste das Dublin-II-System endlich revidiert werden.

Warum?

Baum: Dublin II hat die Länder an den EU-Außengrenzen mit der ganzen Verantwortung belastet. Das betrifft nicht nur Italien, sondern auch Griechenland. Die anderen EU-Länder drücken sich vor der Verantwortung für die Flüchtlinge.

Was wäre die Alternative?

Baum: Man sollte die Flüchtlinge nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten der einzelnen EU-Länder auf diese verteilen. Ich halte es im Übrigen für ausgesprochen zynisch, im Hinterkopf den Gedanken zu haben, es müsse den Flüchtlingen so schwer wie möglich gemacht werden, damit die Schlepper keine Chance mehr haben. Das ist ja auch das Argument unserer Politiker: Wenn wir die Türen für die Flüchtlinge öffnen, profitieren auch die Schlepper, die damit Geld verdienen. Also schrecken wir ab. Eine Politik der Abschreckung ist aber aus humanitären Gründen in keiner Weise ethisch verantwortbar. Man darf doch als Preis für die Bekämpfung des Schlepperunwesens nicht Tausende von Menschenleben riskieren.

Als mögliche Lösung werden Asylzentren in Nordafrika vorgeschlagen, wo informiert und geprüft werden soll, ob Asylanträge eine Chance haben.

Baum: Das sind uralte Überlegungen. Aber welchen Status sollen solche Zentren haben? Was soll da passieren? Ich habe meine Zweifel. In Zeiten von Mobiltelefon und Internet sind die Menschen, die zu uns kommen wollen, bestens informiert, was sie erwartet. Und sie wissen, dass sie, wenn sie erst einmal die Festung Europa erreicht haben, zumindest zeitweise auf sicherem Boden sind.

Es wird ja immer der Unterschied gemacht zwischen politisch Verfolgten, also Menschen, die ein Recht auf Asyl haben, und Armutsflüchtlingen...

Baum: Diese Debatte kenne ich, seit ich Innenminister war. Das Recht auf Asyl steht - inzwischen verstümmelt - im Grundgesetz. Aber wir haben keinen Anlass, sogenannte Armutsflüchtlinge ihrem Schicksal zu überlassen, wenn sie sich auf den Weg nach Europa gemacht haben. Europa hat eine unglaubliche Attraktivität. Wir haben immer die Augen davor verschlossen, dass wir in großem Glück leben und Millionen von Menschen eben nicht. Wir müssen die Konsequenzen der Attraktivität Europas tragen, und zwar gemeinsam.

Zur Person

Gerhart Rudolf Baum war zwischen 1972 und 1978 Parlamentarischer Staatssekretär bei den Innenministern Hans-Dietrich Genscher und Werner Maihofer, ehe er 1978 für vier Jahre selbst Chef des Innenressorts wurde. Von 1982 bis 1991 war er einer der stellvertretenden FDP-Vorsitzenden. Er lebt in Köln.

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