Analyse Ein Hoch auf die Alten - Politiker mit Ecken und Kanten

In der Politik - nicht nur in ihr - haben immer mehr die glatten Manager das Sagen. Politiker mit Ecken und Kanten werden selten.

 Mit Ecken und Kanten: Konrad Adenauer, Willy Brandt, Herbert Wehner und Franz Josef Strauß (im Uhrzeigersinn von oben links).

Mit Ecken und Kanten: Konrad Adenauer, Willy Brandt, Herbert Wehner und Franz Josef Strauß (im Uhrzeigersinn von oben links).

Foto: Fotos: dpa; Illustration: D. Krobath

"Minister", sagt der frühere GA-Karikaturist Dieter Hanitzsch, "müssen nicht ministrabel sein, sondern karikabel." Und dann nimmt er seinen Stift, wirft zwei Augenbrauen aufs Papier, und jeder sieht, was er eigentlich noch nicht sehen kann: Theo Waigel, den Mister-Euro, den Mann mit den Augenbrauen.

Die kleine Geschichte zeigt, worauf es ankommt, auch oder gerade in der Politik: auf Menschen - nicht mit Augenbrauen, aber mit Eigenschaften, mit Ecken und Kanten. Davon gibt es immer weniger, und das ist nun kein Befund nach dem Motto: Früher war alles besser. Das ist schlicht Realität. Man muss sich ja nur umschauen in der Welt der großen Politik. Wo, bitte, fällt einem spontan ein Mensch ein, der in dieser Weise anzieht, die Blicke, die Bewunderung. Aung San Suu Kyi vielleicht, die fast ihr ganzes Leben lang unterdrückte Demokratin aus Birma, die letztlich obsiegt hat. Sie ist so eine, aber irgendwie auch ein Insidertipp. Auf dem Bonner Markt könnten nicht viele mit dem Namen etwas anfangen. Bleibt - vielleicht - Barack Obama, der, wir wissen es, aber in Europa überzeichnet wird, dem hier mehr Verehrung entgegengebracht wird als jenseits des Atlantiks.

Ansonsten? François Hollande etwa, der Franzosenführer, natürlich nicht. Der Brite? Wie heißt der überhaupt? Wladimir Putin? Igitt. Bleibt Angela Merkel. Erfolgreich, lang im Amt, Titelfrau im Time-Magazin. Aber hat sie Charisma? Ausstrahlung, die die Menschen verzaubert, begeistert, gar in Bann schlägt? Eher nicht. Dann schon eher Peer Steinbrück? Das "rasende Nashorn", wie ihn der Spiegel diese Woche genannt hat. Ecken und Kanten sicher, auch eine ausgebeulte Hosentasche voller Geldscheine. Aber Charisma?

Die Zeit der Charismatiker, so will es den Anschein haben, geht vorbei. Und das ist eben kein nostalgisches Gejammer. Der Politologe Franz Walter hat 2009 "Charismatiker und Effizienzen" gegeneinander gestellt. Unter der ersten Rubrik notiert er Konrad Adenauer, Willy Brandt, Franz Josef Strauß und Helmut Kohl (bei letzterem könnte man über die Einordnung auch gewiss streiten). Zu den Effizienzen rechnet er Manager der Macht wie Hans Globke, Horst Ehmke, Rudolf Seiters oder Edmund Stoiber.

Stoiber ist ein gutes Beispiel auch für die Relativität von Charisma. Im Vergleich zum großen Strauß wirkte er wie ein Manager, im Vergleich zum heute agierenden Horst Seehofer hat er beinahe auch etwas Charismatisches.

Der große Strauß? Ja, der große Strauß. Ein Politiker, der a) wusste, was er wollte, der b) eine hohe Anziehungskraft auf die Menschen hatte und der c) Anstoß erregte, anstößig wirkte. Und von einer unglaublichen Freiheit im Denken und Handeln war - man denke nur an den Millionenkredit für die DDR! - bis hin zu einer gewissen Rotzigkeit. Lieber, so eines seiner bonmots, würde er Ananas in Alaska züchten als Bundeskanzler zu sein. (Was natürlich gelogen war wie auch der ernsthaftere Satz: "Ich hoffe, es geht diesem Volk nie so schlecht, dass es glaubt, mich zum Bundeskanzler wählen zu müssen.")

Nein, so schlecht ging es dem deutschen Volk in den letzten 67 Jahren nicht. Davor schon. Weshalb, Putin wurde schon angetippt, hier mindestens der Hinweis hingehört, dass Charisma als Gnadengabe, als wohlwollende Gabe, positiv konnotiert ist, ein Adolf Hitler also keine Chance hat, ein charismatischer Führer genannt zu werden, auch wenn er die Menschen in seinen Bann zog. Max Weber ist diese Unterscheidung ein wenig misslungen, wenn er in seinen Überlegungen zum Charismatiker davon spricht, Charisma beinhalte "Vertrauen zum Führer". Das - siehe der Gröfaz - ist eben genau das nicht, was Charisma meint.

Konrad Adenauer hatte Charisma, trotz seiner spröden unprätentiösen Art. Und er hatte eine Idee. Willy Brandt hatte es auch. Helmut Schmidt, der heute so Hochverehrte, war in seiner Amtszeit sicher ein Prototyp der Effizienz. Und das Charisma eines Strauß oder eines Herbert Wehner war wieder von ganz anderer Intensität. Beide polternd, beide wissend, wohin sie wollten (meistens), aber doch nicht umrahmt von der Aura eines Adenauer oder Brandt. Wobei: Charismatiker ziehen nie alle in ihren Bann, eben weil sie Anstoß erregend, was beim einen oder anderen eben auch anstößig wirkt.

Charismatiker haben, wie es Matthias Matussek im Spiegel schreibt, ein Sieger-Gen. Sie gehören nie der Kaste der Büroleiter an. Teenager-Minister - bei denen die Hauptfrage ihrer Amtszeit bliebt: Schaffen sie es überhaupt? - auch nicht.

Charisma ist nicht lernbar. Nicht erwerbbar. Nicht auf Führungsakademien, nicht in Führungsseminaren. Es reicht übrigens auch nicht, den Menschen "nahe zu sein", wie Johannes Rau das immer postulierte. Man muss sie auch begeistern können. Charismatiker wandern auf einem schmalen Grat. Charismatiker machen keine Fehler. Charismatiker sprechen nicht von Sachzwängen oder von Alternativlosigkeit, sie sind keine Manager der Macht.

Wilhelm Hennis, der Anfang des Monats verstorbene große Politologe, hat das so beschrieben: "Allem soziologischen Fatalismus von der Allmacht der Sachzwänge zum Trotz zeigt sich, wie sehr doch die Qualität der Politik abhängig geblieben ist von den sie entscheidend bestimmenden Personen." Hennis wollte damit damals (1964) nicht nach der charismatischen Führungspersönlichkeit rufen, tat es aber faktisch doch.

Johannes Rau hat in einer seiner großen Rede am 10 Todestag von Willy Brandt - er starb am 8. Oktober 1992 - gesagt: "Wenigen Politkern ist es je gelungen, Menschen so mitzureißen, wie er das konnte." Und: "Die Köpfe und die Herzen zu erreichen, das war für Willy Brandt kein Marketingkonzept."

Und der so Gelobte selbst wehrte zeit seines Lebens die großen Girlanden immer fast schüchtern ab. Den Kniefall in Warschau im Dezember 1970, die große Geste, die von ihm in Erinnerung bleibt, begründete er, der von den Nazis verfolgte, der für deren Verbrechen zu Boden ging, mit dem lapidaren Satz: "Einer musste es ja machen." So wie er auch seine ganze Politik auf einen einfachen Nenner brachte: "Die ganze Politik soll sich zum Teufel scheren, wenn sie nicht dabei hilft, das Leben der Menschen etwas einfacher zu machen."

In seiner Abschiedsrede 1987 in Bonn wurde dieser große Sozialdemokrat noch einmal exemplarisch in dem, was sein Charisma ausmachte: Klar, ohne sich verbiegen zu lassen und doch den Menschen so nah. Nur zwei Sätze: "Man kann dem scheidenden Vorsitzenden auch seine Liberalität ankreiden, nur muss man wissen, dass er ohne sie nicht mehr er selbst gewesen wäre." Und: "Ich habe meine Fehler gemacht. Ich habe nicht immer alles bedacht, was hätte bedacht werden sollen. Das tut mir leid. Und das ist es dann auch." Das ist es dann auch. Er hat nicht gesagt wie Enkel Gerd: "Basta".

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