Bundesparteitag der Piraten in Neumarkt Die sich selbst motivieren

NEUMARKT · Wenn schon Pirat, dann richtig. Vom Scheitel bis zur Sohle. Florian André Unterburger hat sich vor fünf Jahren einen Anzug gekauft. Eine Maßanfertigung in Orange. Ein absoluter Hingucker. 500 Euro teuer. Viel Geld für einen Studenten. Doch Unterburger, seit Herbst Vorsitzender der Piratenpartei in Sachsen, hat das Geld gern ausgegeben.

 "Ihr seid so ruhig. Also, alle mal hochheben", ruft Piraten-Chef Bernd Schlömer.

"Ihr seid so ruhig. Also, alle mal hochheben", ruft Piraten-Chef Bernd Schlömer.

Foto: dpa

Der 25-Jährige sagt, das maßgefertigte Tuch in schreiendem Piratenorange sei gewissermaßen "ein politischer Anzug". Er stehe dafür, dass Rot und Gelb oder auch Gleichheit und Freiheit eben doch zusammengingen. Seine Piraten jedenfalls sieht Unterburger im linksliberalen Spektrum des deutschen Parteiensystems. Er sagt, die Piratenpartei sei "sozial-libertär". Das ist schon deshalb ein Statement, weil sich Piraten gemeinhin nicht gern einem bestimmten Lager zuordnen lassen.

So steht Unterburger in der Großen Jurahalle im bayerischen Neumarkt und freut sich, dass die Piratenpartei mit ihren 32.000 Mitgliedern seit einer Nacht und einem halben Tag eine neue politische Geschäftsführerin hat. Katharina Nocun, 26 Jahre junge Netzaktivistin aus Niedersachsen, hat den umstrittenen Johannes Ponader abgelöst. Sie will dazu beitragen, dass die Partei bald wieder mehr als drei Prozent hat.

Die 1500 Piraten haben bei ihrem Wahlprogramm-Parteitag an Tag eins bis in die Nacht über eines ihrer Kernanliegen diskutiert: über die Ständige Mitgliederversammlung (SMV), eine Art permanenter Parteitag im Netz. An Tag zwei geht es mit dem Thema weiter. Und zum Abschluss an Tag drei nochmals über Stunden. In einem Tweet ist für einen der nicht angereisten Piraten ohnehin ausgemacht: Die meisten Mitglieder seien für die SMV, doch ihnen fehle das Geld für die Bahnfahrkarte, um in Neumarkt mitzustimmen.

Und dann, nach nur 73 Minuten an Tag zwei, haben die Piraten ein Wahlprogramm verabschiedet, jedenfalls in wesentlichen Teilen. Und keiner hat's gemerkt. Martin Delius, der im Berliner Abgeordnetenhaus den Untersuchungsausschuss um den Pannen-Großflughafen BER leitet, geht noch fix an eines Hallenmikrofone und fragt, er würde gern mal sehen, wer von den Parteifreunden überhaupt wisse, was da soeben beschlossen worden sei. Und siehe da, eine Mehrheit des Parteitages hebt die grüne Ja-Karte, was so viel heißt wie: Wir haben verstanden.

Parteivize Markus Barenhoff, NRW-Bundestagskandidat, sieht die Piraten als Wächter und Verteidiger von Freiheitsrechten. Der Platz dafür sei da. Derzeit gebe es "keine freiheitliche Bürgerrechtspartei". Die umstrittenen Sicherheitsgesetze beispielsweise zur neu geregelten Bestandsdatenauskunft, mit der staatliche Stellen Inhaber eines Telefonanschlusses, einer Email-Adresse oder einer bei der Interneteinwahl vergebenen IP-Adresse feststellen können, machten "die Freiheit zum Opfer von Sicherheit". Barenhoff sagt Nein. Er ist wie viele dafür, sich Mehrheiten nach Themen, nicht nach Koalitionen zu suchen. Piraten sagen: "Privatsphäre ist Menschenrecht - auch im Internet."

Barenhoffs Vizekollege an der Parteispitze, Sebastian Nerz, geißelt SPD und Union, "für die es gar nicht genug Überwachung geben kann". Piraten wollten aber "keine Exekutive, die Trojaner kauft". Nerz ruft: "Wir sind Piraten. Wir sind laut. Wir sind unbequem." Und: "Heute und morgen erschaffen wir die Zukunft." Nerz gibt alles: "Neumarkt wird zum Epizentrum eines Erdbebens, das Berlin erschüttern wird."

Es gibt auch noch andere Sorgen. Selbst für Piraten. Gerade an Bundesliga-Spieltagen. Ein Antragsteller fordert das Zulassen von Pyrotechnik in deutschen Fußballstadien. Er erklärt: "Pyrotechnik ist kein Verbrechen." Der Tagungsleiter sagt: "Das ist ein Parteitag und kein Stadion." Der Antragsteller bittet um Zustimmung: "Das ist ein Wahlprogramm und kein Gesetz." Nach längerer Debatte stimmt der Parteitag mit Zwei-Drittel-Mehrheit für Pyrotechnik "als fester Bestandteil der Fankultur" in deutschen Stadien.

Parteichef Bernd Schlömer, der ein braunes St. Pauli-Shirt mit aufgedrucktem Piratentotenkopf trägt, glaubt an den Erfolg. Er fordert die Mannschaft demonstrativ zum Einsatz auf: "Ihr seid so ruhig. Also, alle mal hochheben." Prompt halten Hunderte Piraten ihre Flyer in die Höhe. Darauf steht: "#Ich bin motiviert." Trainer Schlömer ist zufrieden.

Tags darauf sind die Piraten noch immer motiviert. Sie halten wieder ihre Flyer hoch. Schlömer trägt jetzt ein weißes Hemd. Er ruft: "Ja, ja, ja! Es gibt auch schlechte Zeiten; wir werden alle sterben - man kann sich daran abarbeiten, reflektieren und bemitleiden." Aber bitte, die Piraten seien zum "Aufbrechen!, Klarmachen!, Ändern" da. Beifall.

Schlömer kritisiert mit Ausnahme der Linken alle im Bundestag vertretenen Parteien, die teilweise Beobachter geschickt haben: Die CSU, die "bayerischen Horden" der CDU, sei ein Selbstbedienungsladen, die FDP eine Lobby-Vereinigung, die Grünen seien "alt" geworden und gar nicht netzaffin, und die SPD agiere wie ein "netzpolitischer Geisterfahrer". Dann ruft Schlömer zum Schluss: "Piraten, auf in den Deutschen Bundestag!" Jetzt steht die Halle Kopf. Das wollten sie hören. Ahoi!

Das Wahlprogramm der Piraten

  • Soziales: Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle, auch Kinder, soll schrittweise eingeführt werden. Die Höhe ist offen.
  • Arbeitsmarkt: Ja zu einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn - aktuell gefordert werden 9,02 Euro pro Stunde für unbefristete und 9,77 Euro für befristete Arbeitsverhältnisse.
  • Europa/Euro: Verfassungskonvent zur Zukunft Europas. Der massive Aufkauf von Staatsanleihen kriselnder Euro-Länder durch die EZB wird abgelehnt.
  • Mitbestimmung: Offene Wahllisten und obligatorische Volksentscheide auf Bundes- und europäischer Ebene.
  • Familie/Kinder/Pflege: Besonderer Schutz für Lebensgemeinschaften, in denen Kinder aufwachsen oder Menschen gepflegt werden. Begriff "Ehe" wird durch "eingetragene Lebenspartnerschaft" ersetzt.
  • Energie: Industrie-Rabatte bei der Ökostromumlage müssen gekappt, Anreize für Stromspeicher und dezentrale Produktion gesetzt werden.
  • Nahverkehr: Busse und Bahnen sollen nichts kosten, sondern von Steuergeld bezahlt werden.
  • Verbraucher: Einführung eines "Lärm-Labels", um Bürger vor Verkehrs- und Industrielärm zu warnen.
  • Steuern: Abschaffung der persönlichen Steuer-Identifikationsnummer.
  • Internet: Gesetzliche Festschreibung des neutralen Charakters der Datendurchleitung im Internet (Netzneutralität). Diskriminierung durch Güteklassen und Angebotseinschränkungen werden abgelehnt.
  • Datenschutz: Schutz von Meinungsäußerungen in "digitalen Netzen" im Grundgesetz. Verbot von Spähsoftware (Trojaner) für Sicherheitsbehörden. Ablehnung des Großen Lauschangriffs.
  • Drogen: Reform des Betäubungsmittelgesetzes, um "Entmündigung" von Bürgern beim Konsum bestimmter Substanzen zu beenden. Bis zu 30 Gramm Cannabis für den Eigenverbrauch sind okay.
  • Prostitution: Eine "Diskriminierung und Kriminalisierung von Sexarbeitern und ihren Kunden" wird abgelehnt.
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