Kommentar Die Traute fehlt

Hamburg · Die Grünen sind gerade keine glückliche Partei. Sie sind sogar ziemlich der Rolle. Ihnen ist mit dem Ausstieg aus der Atomkraft das große identitätsstiftende Thema abhanden gekommen. Die Ablehnung von militärischen Interventionen taugt schon lange nicht mehr zur grünen Selbstvergewisserung.

Wenn nun Parteichef Cem Özdemir Waffen für die Kurden fordert, den Terror der IS-Milizen könne man nicht mit der Yoga-Matte unterm Arm bekämpfen, dann gibt es zwar Protest, es folgen ihm aber immerhin Teile der Partei. Festzuhalten bleibt: Die ur-grünen Symbole, die weiße Friedenstaube auf blauem Grund und die "Atomkraft Nein danke"-Sonne, sind Geschichte.

Und was kommt jetzt? Diese Frage ist ungeklärt, und das beunruhigt die von großem Veränderungswillen geprägte Partei. Es reicht den Mitgliedern nicht mitzuregieren, was sie in etlichen Ländern auch mit ordentlichem Erfolg tun, sie wollen gestalten. Die Grünen versuchen es mit dem Umbau der Landwirtschaft auf schonendere Produktionsmethoden. Kein schlechtes Thema, doch so richtig zündet es nicht.

Die Grünen sind verschreckt, weil sie im letzten Wahlkampf als Verbotspartei verbrämt wurden. Warum die ganze Aufregung? Weil die Grünen in ihrem Wahlprogramm empfohlen haben, dass Kantinen an einem Tag in der Woche kein Fleisch auf die Teller packen. So abwegig ist diese Empfehlung ja nicht. Nur, wenn man es macht, dann müssen auch die Führungsfiguren der Partei selbstbewusst dazu stehen und den Veggie-Day verteidigen, statt resignativ einzuknicken.

Das Dilemma mit dem Thema der Grünen kam auch beim Hamburger Parteitag zum Ausdruck. Sie leisteten sich eine "Freiheitsdebatte". Die spannende Frage klammerten sie freilich aus: Wie wollen es die Grünen mit der Freiheit im Umgang mit der Wirtschaft halten? Sie trauten sich wohl nicht, sich damit zu beschäftigen. Vermutlich ist es mit dem Freiheitsbegriff etlicher Grüner nicht so weit her, wenn es um unternehmerische Entscheidungen geht.

Zur Orientierungslosigkeit bei den Inhalten kommt Frust mit dem Führungspersonal. Die Parteichefs harmonieren nicht, die Fraktionschefs schlagen nicht durch. Aus Sicht vieler Berliner Grünen haftet dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann etwas Verschrobenes, Provinzielles an.

Hinter vorgehaltener Hand machen sich manche über ihn lustig. Das ist ein gewaltiger Fehler: Kretschmann ist einer der ganz wenigen Politiker der Grünen, der es versteht, eine Brücke ins bürgerliche Lager zu schlagen. Wer ihm in Hamburg zugehört hat, weiß, warum er die Menschen erreicht. Er ist authentisch. Die Grünen brauchen mehr davon. Es ist ein Jammer, dass dieses Kretschmann-Potenzial von zu wenigen in der Grünen-Zentrale erkannt wird

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