Die Zukunft unserer Erde Die Egoisten und der Schaden für alle

Bonn · Eine Wiese in den Alpen, ein Weg durch den Kottenforst, der Ozean und die Erdatmosphäre: Was allen gehört und von Einzelnen kostenlos genutzt wird, schützt häufig niemand. Eine Konsequenz ist der Klimawandel

 Klimakonferenz in Bonn: Delegierte aus aller Welt beraten über die künftige Bewirtschaftung des Gemeinschaftsguts „Erdatmosphäre“. Zeit ist im Verzug, weil die Gasmüll-Deponie randvoll ist.

Klimakonferenz in Bonn: Delegierte aus aller Welt beraten über die künftige Bewirtschaftung des Gemeinschaftsguts „Erdatmosphäre“. Zeit ist im Verzug, weil die Gasmüll-Deponie randvoll ist.

Foto: picture alliance / dpa

Der Mageninhalt von 30 gestrandeten Pottwalen ist geradezu ein Alarmzeichen: Autoabdeckplanen, Teile von Fischernetzen, scharfkantige Plastikteile. Alles gelangte vom Land in den vermeintlich unendlich großen Weltozean und von dort in die Riesenkreatur. Insofern unterscheidet sich das Innere eines Großsäugers kaum – Reh trifft auf entsorgte Waschmaschine – von einer Straße durch den Kottenforst. Im Grunde reicht schon die Beobachtung, wie Menschen mit öffentlichen Toiletten „umgehen“, um die ernüchternde Erkenntnis von Garrett Hardins Essay „The Tragedy of the Commons“ (Die Tragik der Allmende) zu verstehen und allerorts bestätigt zu sehen. Danach sind Ressourcen, die keinem gehören und alle kostenlos nutzen können, dem Untergang geweiht. Über die Allmende, abgeleitet vom mittelhochdeutschen „algemeinde“, wird seit Jahrzehnten wieder verstärkt debattiert und philosophiert, seitdem Gemeinschaftsgüter – Wälder, Böden, Luft, Meere – zunehmend auch im globalen Maßstab ruiniert werden.

Der Mikrobiologe Hardin hatte 1968 im Fachmagazin „Science“ die Tragik der Allmende als unvermeidliches Schicksal der Menschheit bezeichnet. Bereits 14 Jahre zuvor ermahnte der Ökonom Scott Gordon die weltweite Fischerei: „Niemand misst einem Besitz, der allen zur freien Verfügung steht, einen Wert bei, weil jeder, der so tollkühn ist zu warten, bis er an die Reihe kommt, schließlich feststellt, dass ein anderer seinen Teil bereits weggenommen hat.“ Eine erstaunliche Weitsicht, denn zum Zeitpunkt der Vorhersage wimmelte es im Ozean noch vor Heringen, Alaska-Seelachsen, Rotbarschen oder Makrelen.

Das Problem ist uralt und wurde schon 350 v. Chr. vom griechischen Philosophen Aristoteles in Worte gefasst, wonach „dem Gut, das der größten Zahl gemeinsam ist, die geringste Fürsorge zuteil wird“. Konkret: Wenn die Kühe des einen Bauern eine Weide kahlgefressen haben, gehen die Tiere des anderen leer aus. Diese Allmende unterscheidet sich etwa vom Kollektivgut „Radiohören“: Wenn Herr Schmitz ein Programm konsumiert, kann Frau Lütgenscheid es gleichzeitig auch, ohne dass beiden etwas entgeht; sie rivalisieren nicht. Angelt aber Frau Lütgenscheid einen Fisch aus dem vorbeifließenden Bach, kann Herr Schmitz ihn nicht mehr fangen – und braten. Dennoch gibt es eine Schnittmenge. Es ist die Schwierigkeit, kostenlose Nutzer von einem Konsum auszuschließen, worunter der Schutz des Baches ebenso leidet wie die Bereitstellung eines werbefreien Radioprogramms.

Der Grundkonflikt besteht überall auf der Welt, wo begrenzte Ressourcen keinem gehören und zur Übernutzung, auch durch Verschwendung, führen. Bei einem Grundwasserbrunnen in einem Dorf Afrikas, umgeben von großer Trockenheit, vielen Hirten und Herden, ebenso wie im Weltmaßstab: Ein Ozean mit vielen Fischen, umgeben von Milliarden Fischessern. In beiden Fällen führt die Ausgangslage schnurstracks in ein Dilemma: Wer viel nimmt, hat unmittelbar Vorteile. Für kurze Zeit können auch die Vorteile für alle überwiegen, obwohl allen bewusst ist: Je mehr sich jeder Hirte oder eine Fischfangflotte bedient, desto schneller fällt der Brunnen trocken oder ist das Meer leergefischt. Mehr als ein Jahrhundert nach Gordons Mahnung gelten heute rund 80 Prozent der Fischbestände in EU-Gewässern als überfischt – trotz aller staatlichen Versuche, den Raubbau mit Fangquoten zu bremsen.

„Freiheit auf der Allmende“, so Hardins Fazit, „bringt allen Beteiligten den Ruin.“ Das war aber auch, wie viele wirtschaftliche Theorien, arg theoretisch und zu modellhaft formuliert. Das Leitbild: Jeder einzelne Fischer handelt durchaus rational, wenn er möglichst viele Fische aus dem Meer holt, aber für die Gemeinschaft endet das Treiben mit einem irrationalen Ergebnis. Forscher sagen dazu „Rationalitätenfalle“: vernünftig für den Einzelmenschen, unvernünftig für die Gemeinschaft.

Dass optimierter Eigennutz zwangsläufig Gemeingüter zerstört, ist jedoch nicht Schicksal, wie die amerikanische Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom bewies. Sie war inspiriert vom Bonner Ökonomen Reinhard Selten, der 1994 den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt. Der Spieltheoretiker hatte sein Leben lang so seine Zweifel, ob die Leitfigur des wirtschaftlichen Mainstreams tatsächlich so tickte, wie es alle annahmen: Handelt der Homo oeconomicus ausschließlich rational und folgt stur einer Strategie der Maximierung des eigenen Vorteils? Oder trägt er zuweilen einem anderen Kompass? Mit „experimenteller Ökonomie“ erkundete Selten, warum der Mensch handelt, wie er handelt – nämlich keineswegs immer rational, sondern auch gelenkt von diversen Motivlagen, Lernprozessen und unbewussten (Vor)Urteilen.

Daran knüpfte Elinor Ostrom an. Sie fand in 1000 Fallstudien Menschen, die durchaus miteinander kooperieren und eine überlebenswichtige Ressource nachhaltig nutzen. Ob Schweizer Almbauern, amerikanische Hummerfischer, nepalesische Terrassenbauern oder türkische Fischer: Sie alle sind der „Tragik der Allmende“ entkommen, indem sie erst stritten, dann Regeln aufstellten und einen aus ihrem Kreis benannten, der deren Einhaltung kontrollierte und Verstöße sanktionierte. Was Staat oder Markt nicht verhinderten, gelang durch Lösungen vor Ort.

Da im Zuge des Bevölkerungswachstums der Druck auf die Ressourcen und damit das Konfliktrisiko wächst, erschien es dem Nobelkomitee 2009 offenbar sinnvoll, Ostroms Erkenntnisse ans Brett „öffentlicher Bekanntmachungen“ zu nageln, indem sie ihr – als erster Frau – den Wirtschaftsnobelpreis verliehen. Doch für ein globales Gemeingut wie die Erdatmosphäre ist Ostroms Wissen kaum brauchbar. Zwar ähnelt eine UN-Klimakonferenz, wie sie gerade in Bonn tagt und heute Abend endet, im Prinzip einer Dorfältestenversammlung vor vielen Jahrhunderten, die über ihre Weidegründe beratschlagte. Aber: Ein notwendiges Regelwerk zum Klimaschutz entpuppt sich als weit komplexer und verzwickter.

Das wird schnell deutlich, folgt man Ostroms Leitlinien, welche Voraussetzungen zur nachhaltigen Nutzung einer Ressource wie der irdischen Lufthülle erfüllt sein müssen: Die Milliarden anonymer Verschmutzer sind das Grundproblem; niemand kann wirksam von der Nutzung der Atmosphäre als Abfallgas-Deponie ausgeschlossen werden, der Mopedfahrer in Sri Lanka ebenso wenig wie der Betreiber eines Kohlekraftwerks. Auch können Betroffene, einzelne Menschen, die Regeln weder beeinflussen noch ändern. Zudem bleibt das heikle Kapitel der Überwachung von Regeln und die Bestrafung bei Verstößen: Bei lokalen Regelungen auf der Alm (Weidedauer) oder der Reisterrasse (Wassermenge) funktioniert es. Aber wie sollte ein internationaler Sanktionsmechanismus aussehen? Er müsste auch von Diktaturen akzeptiert werden.

Deshalb bleibt bei einer erdumspannenden Ressource kaum eine andere Möglichkeit, als Staaten wie Individuen zu betrachten und unter dem Dach der Vereinten Nationen einen Konsens anzustreben. Die „Gruppengespräche“ mit 195 Teilnehmern haben jedoch über die Jahrzehnte nichts zustande gebracht, was die klimaverändernde Weltemission senkt und dem entspräche, was UN-Generalsekretär als „Friedensvertrag mit unserem Planeten“ bezeichnet.

Zum trägen Fortschritt hatte auch ein Missverständnis beigetragen. Die Öffentlichkeit musste lernen, dass sich das Klimawandel-Problem nicht dadurch erledigt, indem endliche Kohle- und Ölvorkommen eines Tages ausgebeutet sind. Denn die in der Erdkruste noch verfügbaren fossilen Energieträger sind um ein Vielfaches höher als die atmosphärische Deponie Schadstoffe klimaverträglich aufnehmen kann.

Zwar hat das Pariser Abkommen Ende Dezember 2015 eine Übereinkunft darüber erzielt, wie der Gasmüllkrieg gegen die Lufthülle beendet werden könnte, aber die Wirtschaftsnobelpreisträgerin Ostrom würde abwinken: Weil die Welt keine Sanktionen bei Verstößen verhängen darf, kann das nicht klappen. Warum sollte sich ein Staat, der über reiche Kohlevorkommen verfügt, in Kosten für den Klimaschutz stürzen, wenn die Folgen der globalen Erwärmung primär andere Erdwinkel betreffen? Und wenn er keine Strafe fürchten muss?

So sieht es auch Professor Ottmar Edenhofer, Klimaökonom an der Technischen Universität Berlin und Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. In einem Beitrag für das Buch „Unter zwei Grad“ schreibt er: „Das Pariser Abkommen ist ein Meilenstein für die internationale Klimadiplomatie, aber noch kein Durchbruch für eine ambitionierte Klimapolitik.“ Edenhofer plädiert dafür, dass das bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe entstehende Kohlendioxid (CO2) weltweit einen Preis haben müsste.

Eine CO2-Steuer wäre so etwas wie eine Gasmüllgebühr, die den Trend, immer mehr Treibhausgase freizusetzen, bremsen könnte. Doch das Abkommen setzt auf freiwillige CO2-Enthaltsamkeit der Staaten, zudem ohne Sanktionen, wenn selbstgesteckte Ziele nicht erreicht werden. Das würde selbst in einer viel kleineren Hirtengruppe auf einer Alm nicht funktionieren. Nirgendwo auf der Welt.

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