Bundeswehr-Abzug aus Afghanistan Der bange Blick nach vorn

KABUL · Das Land am Hindukusch versucht, sich ohne ausländischen Schutz und mit weniger Hilfe zu arrangieren. Beobachter malen dabei eine düstere Zukunft. Wie und wann die deutschen Soldaten Masar verlassen können, ist deshalb noch Gegenstand heftiger Diskussionen.

 Abschied in Raten: Soldaten der Bundeswehr holen die Flagge im Feldlager Faisabad ein.

Abschied in Raten: Soldaten der Bundeswehr holen die Flagge im Feldlager Faisabad ein.

Foto: ap

Der Aufstieg zum Haus des Mullahs ist atemberaubend - im wahrsten Sinne des Wortes. Der Weg führt über einen steilen Pfad im Südosten der 1800 Meter über dem Meer liegenden afghanischen Hauptstadt Kabul zu einer grünen Eisentür in einer Seitengasse.

Es geht ein paar enge Stufen aus sorgfältig gefegtem Beton bergab, und dann steht der Besucher auf einer Terrasse mit einem einzigartigen Ausblick: Zu den Füßen von Mullah Qalamuddin, der die Bleibe vor einigen Jahren gekauft hat und jetzt hier lebt, erstrecken sich über mehrere Kilometer Kabuls dicht an dicht stehende Häuser, bevor am dunstigen Horizont die Berge der Provinz Logar - einem Hort der radikalislamischen Talibanmilizen - auftauchen.

Der gute Überblick, den der islamische Geistliche sozusagen aus seiner Studierstube genießt, hat wenig für die Einsicht des Mullahs getan. "Man kann nicht behaupten, dass die Afghanen die Taliban ablehnen", sagt das Mitglied des von Präsident Hamid Karsai eingesetzten "Hohen Rats für Frieden", "denn bislang hat sie niemand gefragt."

Mullah Qalamuddins Glaube an die andauernde Beliebtheit der radikalislamischen Milizen gründet zu einem guten Teil auf den afghanischen Zuständen. "Es gibt jede Menge Verbrechen, Korruption ist allgegenwärtig, es gibt keine Zukunftsperspektive", sagt der Geistliche, der als Mitglied von Afghanistans "Hohem Rat für Frieden" helfen soll, einen friedlichen Ausgleich zwischen der Regierung von Präsident Karsai und den Talibanmilizen unter Führung von Mullah Omar zu suchen.

Ein anderer Beweggrund für den anhaltenden Glauben an die Beliebtheit der Milizen unter den Afghanen dürfte die persönliche Vergangenheit des Mullahs sein. Zu Zeiten der Talibanherrschaft vor dem Jahr 2001 war er als Chef der "Polizei für Religion und Verhinderung von Sünden" der radikalislamischen Milizen der oberste Sittenwächter des Landes und dafür verantwortlich, die strengen, konservativen Religionsnormen in die Praxis umzusetzen.

Mullah Qalamuddin gehörte qua Amt zu den gefürchtetsten Talibankommandeuren. Seine Behörde forschte nach heimlichen Mädchenschulen und verhängte harsche Strafen, wenn Lehrerinnen bei dem verbotenen Unterricht erwischt wurden. Die Handlanger des Mullahs zogen abends durch die Straßen Kabuls und versuchten herauszufinden, wer heimlich Fernsehen schaute.

Meine letzte und einzige Begegnung damals kam zufällig Zustande. Im Speisesaal des "InterContinental Hotel", Ende der 90er Jahre eine finstere Höhle mit wenig Angebot, schickte er einem spanischen Kollegen, einer britischen Korrespondentin und mir ein paar seiner Leibwächter auf den Hals, während wir uns lauthals lachend über alte Anekdoten aus dem Leben als Kriegskorrespondenten amüsierten.

Die Frau habe ins Zimmer zu verschwinden, verkündeten die Schergen des obersten Taliban-Sittenwächters. Andernfalls würde es Prügel mit der Peitsche geben.

Heute will sich der sichtlich schlanker gewordene Paschtune Qalamuddin an die Begegnung nicht mehr erinnern. Und wenn er sich auch noch immer mit einer gewissen Wehmut an Vorzüge der Talibanherrschaft erinnert, so kennt er doch einige Zeichen der Zeit. Schulausbildung für Mädchen, so sagt Qalamuddin in seinem Haus mit der herrlichen Aussicht, sei für die Zukunft Afghanistans unbedingt erforderlich.

In seinem mit Kunstteppich ausgelegten Besuchszimmer zeigt sich der Mullah bei reichlich Süßigkeiten, Tee und Nüssen nicht nur ausgesprochen höflich und gastfreundlich. Mit traurigem Gesicht gibt er zu: "Wir haben leider ein paar Afghanen hinrichten müssen." Dann fällt ihm ein, dass er eine besondere Botschaft "für die Deutschen" habe, wie er sagt. Um des Friedens Willens dürfe Afghanistan nicht erlauben, dass die USA nach dem Jahr 2014 Stützpunkte am Hindukusch unterhalten würden.

[kein Linktext vorhanden]Mullah Qalamuddin mag ein unappetitliches Beispiel für das "Neue Afghanistan" sein. Aber er ist ein Bespiel für afghanische Normalität zwei Jahre vor dem endgültigen Abzug westlicher Kampftruppen aus Afghanistan. Ob ehemalige Kriegsfürsten und aktuelle Drogenbarone oder ehemalige Talibanfunktionäre, die vielleicht immer noch zu den Milizen gehören - in der gegenwärtigen Übergangsphase scheint fast jeder einen Platz in Kabul zu finden, solange bestimmte Sicherheitsvorkehrungen beachtet werden.

Die Bundeswehr und Afghanistan
8 Bilder

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Der frühere radikalislamische Sittenwächter Qalamuddin lebt in einem Paschtunenviertel, dessen Vorteile der Mullah schnell zusammenfasst: "In unserem Viertel gibt es keine Kriminalität", sagt er im Brustton der Überzeugung, "hier leben nur ehrliche Paschtunen! Außerdem sind im Notfall die Berge von Logar schnell erreichbar."

Auch die anderen Volksgruppen der Hasaras, Tadschiken und Usbeken haben sich längst in eigene Viertel zurückgezogen. Sie setzen auf den Schutz der ethnischen Gemeinschaft und haben Kabul damit in ein Spiegelbild der geteilten afghanischen Gesellschaft verwandelt: Angesicht der ungewissen Zukunft nach dem Jahr 2014 bereitet man sich im ganzen Land auf den "Tag X" vor, an dem bis auf westliche Militärausbilder und sie schützende Spezialtruppen keine Kampftruppen mehr am Hindukusch stationiert sein werden.

Es ist eine ziemlich düstere Zukunft, wenn man den Worten von Reto Stocker glaubt, dem Anfang Oktober nach sieben Jahren abgelösten Leiter des Internationalen Roten Kreuzes in Kabul. "Ich verlasse Afghanistan voller Sorge", sagt der IKRK-Delegierte, "seitdem ich 2005 hier angekommen bin, hat es eine Ausbreitung von lokalen, bewaffneten Gruppen gegeben, dank der Zivilisten nicht nur zwischen eine, sondern viele Fronten geraten.

Es ist schwierig für Afghanen, Zugang zur Gesundheitsversorgung zu finden. Afghanen leiden nicht nur unter dem Konflikt. Es gibt mehr Elend dank der wirtschaftlichen Lage, dank schlechtem Wetter und Naturkatastrophen - und vor allem schrumpft zunehmend jede Hoffnung auf die Zukunft."

Verheerender als die Worte des politisch neutralen Vertreters des Internationalen Roten Kreuzes kann eine Bilanz des Militäreinsatzes und des westlichen Zivilengagements, deren Kosten nach rund elf Jahren auf Hunderte von Milliarden Euros gestiegen sind, kaum ausfallen.

Doch ein paar Kilometer von dem leicht zugänglichen Büro des Roten Kreuzes im Stadtzentrum von Kabul wird im Botschaftsviertel rund um das Hauptquartier der von der Nato geführten Internationalen Sicherheitskräfte ISAF eine völlig andere Version verbreitet.

Man werde beim Abzug der Truppen Ende 2014 ein Afghanistan hinterlassen, dessen über 300.000 Mann starke Sicherheitskräfte dem Land eine mehr oder minder robuste Stabilität verleihen würden, heißt es dort hinter gepanzerten Mauern und hohen Wällen aus "Hescos", jenen Ungetümen aus Sackstoff und Erde, die Bomben abhalten sollen.

Eine Realität wird bei diesen Darstellungen großzügig ausgeblendet. Das gesamte Offizierskorps der afghanischen Armee hat sich mit Häusern und Grundstücken in Dubai oder Indien längst sichere Rückzugshäfen für den Fall gesichert, dass es am Hindukusch kritisch werden sollte.

Weil man aus der Vergangenheit gelernt hat, haben sich westliche Länder deshalb verständigt, Kabul nach 2014 für weitere zehn Jahre zu finanzieren. Schließlich brach Anfang der 90er Jahre das von der Sowjetunion hinterlassene Najibullah-Regime erst zusammen, nachdem die Zahlungen aus Moskau ausblieben. Ob die westlichen Absichtserklärungen angesichts zunehmender wirtschaftlicher Probleme in Europa und den USA Bestand haben werden, bleibt abzuwarten.

"Was können wir schon tun?" fragt in der nordafghanischen Stadt Masar-i-Sharif der knapp 30-jährige Haroon Khalili angesichts des geplanten Abzugs. Er ist gerade von einem wochenlangen Trip nach Kasachstan zurückgekehrt. Ein Teil seiner Familie lebt dort, und wenn sich die Lage im Norden Afghanistans verschlechtern sollte, könnte er sich dorthin absetzen. In der Stadt nahe der Grenze zu Usbekistan, in der die Bundeswehr mit dem Camp Marmol ihren größten Stützpunkt unterhält, spüren die Bewohner noch nichts von dem bevorstehenden Abzug der NATO.

Aber in den umliegenden Provinzen kündigt sich die Zukunft bereits mit deutlichen Zeichen an. Die Bundeswehr hat das "Provincial Reconstruction Team" (PRT) Faisabad längst an die Afghanen übergeben. Das Bundeswehrlager in Kundus, das nahe dem Flughafen auf einem Hügel außerhalb der Stadt liegt, soll im Jahr 2013 geräumt werden.

Auch der Stützpunkt in Baghlan wird wohl nicht mehr lange beibehalten werden. Viele der US-Truppen, die im Rahmen des so genannten "Surge" in den Norden geschickt wurden, sind bereits in die Heimat zurückgekehrt. In Kundus und Umgebung sind längst nicht nur die afghanischen Streitkräfte deutlicher sichtbar als früher. Auch die lokalen Milizen, die dem IKRK-Vertreter Stocker große Sorgen bereiten, gehören zum Alltag.

Doch so schnell wie Kundus und Faisabad wird "Camp Marmol" in Masar-i-Sharif nicht dichtgemacht werden können. Stützpunkt und Lager liegen schließlich an der Route, über die die Ausrüstung der Bundeswehr und NATO-Partner abtransportiert wird. Wie und wann die deutschen Soldaten Masar verlassen können, ist deshalb noch Gegenstand heftiger Diskussionen.

Die Planer der Bundeswehr treibt vor allem ein Punkt um, den schon vor Jahren ein hoher Offizier so formulierte: "Wir wollen auf keinen Fall die letzten sein, die Afghanistan verlassen."

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