Die Situation in der Union Das sind die Szenarien nach Kauders Niederlage

Berlin · Die Niederlage Volker Kauders bei der Abstimmung über den Fraktionsvorsitz ist auch eine Niederlage für die CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie geht es weiter? Ein Überblick über mögliche Szenarien.

 Der Tag nach der Abstimmungsniederlage für Volker Kauder: Kanzlerin Angela Merkel am Mittwoch vor der Sitzung des Bundeskabinetts. FOTO: DPA

Der Tag nach der Abstimmungsniederlage für Volker Kauder: Kanzlerin Angela Merkel am Mittwoch vor der Sitzung des Bundeskabinetts. FOTO: DPA

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Volker Kauder, 69 Jahre alt, Christdemokrat, fest im Glauben, ist den Tränen nahe. Es fehlen nur sieben Stimmen, dann würde jetzt nicht alles über ihn hereinbrechen. Dämpfer, Denkzettel schon, doch keine Schmach, kein Absturz, kein unwürdiger Abschied nach so langer Amtszeit. Aber nun ist es passiert, Schockstarre macht sich im Fraktionssitzungsaal im Bundestag breit.

Anhänger des Unionsfraktionsvorsitzenden sowie der Kanzlerin können es nicht fassen. Sie stützen ihren Kopf in die Hände und wollen den langsam einsetzenden Applaus für den plötzlich gewählten neuen Chef Ralph Brinkhaus nicht hören. Und doch ist die Zäsur jetzt da. Kaum 24 Stunden später analysieren Unionspolitiker am Mittwoch nun die Folgen.

Wer Angela Merkel und Kauder wirklich nur den berühmten Denkzettel verpassen wollte, ist erschrocken, dass daraus ein Amtswechsel geworden ist. Manche von ihnen haben nun das, was kein Verlierer von seinen Gegnern haben will: Mitleid. Protestwähler, die ihr Kreuz bewusst bei Brinkhaus machten, um Merkel zu schaden, beschleicht schon die Sorge, dass der 50-Jährige vielleicht nicht das Kaliber für den Fraktionschefposten hat.

Und die überzeugten Anhänger des Ostwestfalen verspüren Aufwind, den sie unter Kauder schon lange vermisst haben. Fakt ist, die Fraktionsgemeinschaft der 200 CDU und 46 CSU-Abgeordneten ist tief gespalten worden. Bricht nun alles auseinander? Bleibt Merkel CDU-Chefin und Kanzlerin? Hält die Koaliton? Diese Szenarien werden in Hinterzimmern durchgespielt:

Landtagswahlen

In Bayern ist am 14. und in Hessen am 28. Oktober Landtagswahl. Bevor Merkel nicht weiß, wie schwer die Verluste für die Union sein werden, werde sie Ruhe bewahren. Die CSU dürfte ins Strudeln kommen, wenn sie deutlich ihre absolute Mehrheit verliert. Damit könnte ihr Widersacher, Parteichef Horst Seehofer, erst einmal mit seiner eigenen Zukunft beschäftigt sein. Entscheidender wäre ein Rückschlag für Hessens Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU). In diesem Fall wäre es wahrscheinlich, dass Merkel beim Bundesparteitag im Dezember nach dann gut 18 Jahren nicht mehr für den Vorsitz antreten werde, heißt es.

Parteivorsitz

Merkel hat immer gesagt, für sie gehörten der Parteivorsitz und das Kanzleramt in eine Hand. Es sei Gerhard Schröders (SPD) größter Fehler gewesen, den Parteichefposten abzugeben. Die jetzige Situation ist aber eine ganz andere. Während Schröder nicht ans Aufhören als Kanzler dachte, muss Merkel ihren Übergang organisieren. Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer oder NRW-Ministerpräsident Armin Laschet an der Spitze der Bundes-CDU könnten sie entlasten, ohne dass sie Angst haben müsste, als Kanzlerin gestürzt zu werden.

Sie könnte Kanzlerin bleiben und 2020 einen neuen Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 2021 unterstützen. Bei Gesundheitsminister Jens Spahn wäre das anders, sagen Parteimitglieder. Würde es zu einer Kampfkandidatur um den Parteivorsitz kommen, wäre Merkels Position zusätzlich geschwächt. Und im Falle der Wahl eines Kritikers wie Spahn zum Parteivorsitzenden wäre Merkels Karriere vermutlich bald zu Ende.

Die NRW-CDU

Noch nie war die Macht des mitgliederstärksten und damit traditionell einflussreichsten Landesverbandes im Bund so groß wie jetzt unter Laschet. An ihm vorbei wird es weder einen neuen Parteivorsitzenden noch einen neuen Kanzler oder Kanzlerin geben. Die NRW-CDU hat neben Fraktionschef Brinkhaus mit Jens Spahn und Anja Karliczek zwei Bundesminister, mit Hermann Gröhe und Carsten Linnemann zwei Fraktionsvizechefs im Bundestag und mit Oliver Wittke, Thomas Rachel, Sabine Weiss und Günter Krings viele Staatssekretäre in Berlin.

Linnemann ist zudem Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung der Union. Und er ist nicht der einzige Bundesvorsitzende einflussreicher Parteigruppierungen aus NRW: Auch der Chef der Jungen Union, Paul Ziemiak, ist Nordrhein-Westfale, ebenso der Vorsitzende der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft, CDA, Karl-Josef Laumann. Das bedeutet für Linnemann Verpflichtung: „Die Verantwortung der NRW-CDU für die Bundes-CDU war noch nie so groß wie heute.“ Um Vertrauen wiederzugewinnen, sei NRW gefragt.

Allerdings ist fraglich, ob dieser so mächtige Landesverband im entscheidenden Augenblick auch sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen kann. Denn die NRW-CDU ist ähnlich gespalten wie die Partei und die Bundestagsfraktion insgesamt. Viele Abgeordnete aus NRW mutmaßen, dass bei der Wahl zum Fraktionschef die Stimmenverhältnisse für Kauder und Brinkhaus ähnlich gewichtet waren wie in der Gesamtfraktion. Sollte es beim CDU-Parteitag in Hamburg tatsächlich zu einer Kampfkandidatur um den Parteivorsitz kommen, ist mit einer geschlossenen Abstimmung des NRW-Landesverbandes nicht zu rechnen.

Aktuell hat Laschet hat das Problem, dass er wie Merkel nach der Wahl von Brinkhaus als Verlierer dasteht. „Es gibt keine Notwendigkeit, Kauder abzulösen“, hatte er im August gesagt. Das hatte er zum Ärger von Brinkhaus auch damit begründet, dass NRW bereits stark auf Bundesebene vertreten sei.

Vertrauensfrage

Die Option, über die Vertrauensfrage zu vorgezogenen Neuwahlen zu kommen, ist bereits drei Mal erfolgreich erprobt worden: 1972 durch Willy Brandt (SPD), 1982 durch Helmut Kohl (CDU) und 2005 durch Gerhard Schröder (SPD). Jedes Mal machte der jeweilige Bundespräsident von der Möglichkeit des Grundgesetzartikels 68 Gebrauch, auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag aufzulösen. Es handelt sich aber um eine reine Kann-Bestimmung. Dieses Mal hat es die Berliner Politik mit einem Bundespräsidenten zu tun, der schon wiederholt davor gewarnt hat, den Weg von Neuwahlen zu gehen, wenn es doch im gewählten Bundestag durchaus Mehrheiten gibt, die sich nur zusammenfinden müssen.

Vor allem dürfte Frank-Walter Steinmeier auch in den Blick nehmen, dass die Mehrheiten nach Neuwahlen noch viel unsicherer sein können. Er würde wohl alle Parteichefs zu intensiven Gesprächen einladen, um ohne Neuwahlen eine neue Regierungsmehrheit zusammen zu bekommen. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Mittwoch, dass Kanzlerin Merkel keine Notwendigkeit sehe, die Vertrauensfrage zu stellen.

Rücktritt

In einem anderen Szenario wird davon ausgegangen, dass Merkel zurücktreten und einer anderen Unionspolitikerin oder einem anderen Unionspolitiker Platz machen könnte. Ein solcher Wechsel wäre ebenfalls schwer hinzukriegen. Denn ein Rücktritt eines Kanzlers ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Streng genommen ist der Bundespräsident dann zunächst verpflichtet, den Zurückgetretenen damit zu beauftragen, geschäftsführend die Regierung weiter zu führen. Denn mit dem Rücktritt des Kanzlers erlischt automatisch auch das Amt jedes einzelnen Bundesministers. Sie alle würden dann gebeten, bis zur Wahl eines Nachfolgers die Geschäfte weiter zu führen.

Dafür hat der Bundespräsident dem Parlament dann einen Vorschlag zu unterbreiten. Ob der bisherige Koalitionspartner SPD ohne Neuverhandlungen einem anderen Unionspolitiker ohne weiteres den Kanzlerbonus gibt, erscheint fraglich. Deshalb zieht dann der Mechanismus nach Artikel 68. Scheitert ein erster Versuch, die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages hinter einer anderen Person zu versammeln, folgen zwei Wochen, in denen der Bundestag beliebig viele weitere Versuche unternehmen kann. Erst danach geht es in die entscheidende dritte Phase. Findet dort ein Kandidat die einfache Mehrheit der Abgeordneten, hat der Bundespräsident die Wahl: Diese Person ohne eigene Mehrheit trotzdem zum Kanzler zu machen oder den Bundestag aufzulösen und damit Neuwahlen anzusetzen.

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