Ukraine-Krise Das Warten auf die Gegenoffensive

Über der Straßensperre "Tschiroki Hutor" schwebt Nervosität. "Schneller, schneller!", ein Kämpfer winkt die Autos eilig durch, die Männer befürchten einen Feuerüberfall der ukrainischen Artillerie. "Wenn eine Grad-Rakete einen Autobus trifft, überlebt drinnen keiner", erklärt der Kommandeur, Codename "Kater".

 Ein Hauch von Alltag auf beiden Seiten der Front: Ukrainische Soldaten ruhen sich an einem See in der Nähe von Donezk aus.

Ein Hauch von Alltag auf beiden Seiten der Front: Ukrainische Soldaten ruhen sich an einem See in der Nähe von Donezk aus.

Foto: dpa

Aber sagen nicht alle, die ukrainischen Kanoniere zielten miserabel? "Machen Sie die Augen auf!", Kater nickt mit dem Kopf zu dem riesigen Stahlbetonschild "Donezk" hinter seiner Stellung. Granatsplitter haben zahlreiche Löcher hineingerissen. Einige hundert Meter weiter ragt das Rohr eines Raketen-Blindgängers aus dem Straßenasphalt.

Hört man die Abschüsse rechtzeitig, um noch in Deckung zu gehen? "Ich sage Ihnen, wann es knallt", Katers Stimme klingt genervt. "Wenn Sie das noch hören, überleben sie, wenn nicht, sind Sie tot." Kater ist gelernter Fernfahrer, ein drahtiger Mann, der mit seinem Drei-Wochen-Bart und seinem bohrenden blauen Blick aussieht wie einst Jürgen Prochnow in "Das Boot". Hasst Kater den Feind? "Warum? Wer hasst, führt keinen Krieg, er mordet."

"Tschiroki Hutor" ist die vorderste Stellung der prorussischen Rebellen am Südrand von Donezk, 14 Kilometer Niemandsland, dann kommt der erste Blockposten der ukrainischen Truppen. Die Ukrainer haben Donezk so gut wie eingekreist, ihre Artillerie beschießt es täglich, wieder einmal ist das Wasser ausgefallen. Die Rebellen aber geben sich siegessicher, reden von einer großen Gegenoffensive Richtung Süden.

Donezk lebt noch. Lebensmittelläden und Apotheken arbeiten, Taxichauffeure verlangen jetzt pro Fahrt 30 Cent Gefahrenzulage. Aktuelle Kinoplakate hängen aus: "Planet der Affen. Revolution". Aber immer mehr Wohnungen stehen leer, die Hälfte der Einwohner hat die Millionenstadt wohl verlassen.

Wer bleibt, riskiert alltäglich einen Treffer in der Lotterie, die der Tod hier spielt. Eine ganze Nacht schweigen die Kanonen, aber dann zerreißen die Abschüsse eines Minenwerfers am Nordrand der Stadt die glühende Vormittagsluft. Die Geschosse überfliegen halb Donezk, dann schlägt der Tod neben dem Wohnheim des Technischen Instituts ein, wo auch Rebellen einquartiert sein sollen. Sie zerstören mehrere Wohnungen im Gebäude Artjom-Straße 58a, einer der ersten Treffer in der Stadtmitte. "Zum Glück war niemand zu Hause, auch nicht bei den Nachbarn", sagt die Wohnungsinhaberin Irina Wypowa.

Die Mathematikerin zweifelt nicht, dass die Ukrainer gefeuert haben, die Gerüchte, die Rebellen selbst bombardierten Wohnviertel, kommentiert sie mit einem bitteren Witz: "Gestern habe ich den Kindergarten meiner Tochter bombardiert, heute den Autobus, in dem meine Frau zur Arbeit fährt. Ich bin Donezker Separatist und verteidige so meine Stadt." Unter einer Plastikplane liegt ein Toter, seine Raulederschuhe leuchten weiß und gepflegt, daneben steht ein Zivilbeamter und macht sich Notizen. Als wäre der Krieg ein Verkehrsunfall.

In der Nacht aber versammeln sich Hunderte Frauen und Kinder in den umliegenden Luftschutzkellern. "Die Mücken fressen uns", sagt eine junge Mutter, die mit einem Säugling an der Brust auf einer Liege im Bunker an der Tramwainaja Uliza kauert. "Aber besser tausend Stiche als eine Bombe."

Es sieht aus, als riskierten die Ukrainer bei ihren Salven auf die Rebellenpositionen bewusst Treffer in Wohnhäusern, um die Bewohner zu vertreiben und die Separatisten zu isolieren - militärisch wie sozial. Die Taktik scheint sogar zu funktionieren, die Popularität der Rebellen bröckelt. An die Hauswände gemalte Separatistenfahnen sind mit Hakenkreuzen überschmiert. Bettelnde Rentner oder Lehrerinnen, die nicht wissen, wann das nächste Schuljahr beginnt, äußern enttäuschte Neutralität: "Die einen wie die anderen taugen nichts." Vielen Donezkern scheint Frieden unter der ungeliebten Kiewer Staatsmacht lieber zu sein als die heroische Vernichtungsschlacht, die die Separatisten ankündigen.

Deren Elite hat derweil ihre eigene Normalität organisiert. Tags wie nachts jagen schwere Westjeeps durch die Straßen. Cafés und Pizzerien rund um das Hauptquartier der "Donezker Volksrepublik" im Regionalparlament sind geöffnet. Wenn um 23 Uhr die Sperrstunde beginnt, herrscht auf der Veranda des Restaurants "Banana" reges Nachtleben.

Ein in schickes Tarnolivgrün uniformiertes Quartett, drei Krieger und eine junge, zierliche Brünette mit Knabenfrisur, entledigen sich brandneuer Panzerwesten und bestellen Tiramisu. "Ein solides, altes Gebäude", erklärt ein biertrinkender Hüne mit Kalaschnikow, "der Saal im Untergeschoss taugt als Luftschutzkeller." Dolce Vita im Kessel von Donezk.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort