Hafenstadt in Andalusien Das Drama von Motril

Motril · Die Hoffnung auf ein neues Leben ist für viele Flüchtlinge offenbar stärker als alle Gefahren. Ein Besuch in einer andalusischen Hafenstadt

Den ganzen Tag war der orangefarbene Seenotrettungskreuzer „Rio Aragón“ vor der südspanischen Küste im Einsatz. Mehr als 100 Menschen fischten die Retter binnen weniger Stunden aus dem Wasser, darunter auch zwei Babys. Die schiffbrüchigen Migranten waren in vier kleinen Booten unterwegs. Kleine, wackelige Kähne aus Holz oder Gummi, die in Spanien „pateras“ genannt werden.

„So geht das fast jeden Tag“, sagt Juan Alcausa. Der Koordinator des Roten Kreuzes im südspanischen Küstenort Motril wartet mit seinem Team im Hafen auf die Geretteten. Jetzt, wo das Meer ruhiger sei, schicken die Menschenschlepper auf der anderen Seite des Mittelmeers besonders viele Flüchtlingsboote auf die Reise. Das sei wohl erst der Anfang. „Wir stehen vor einem heißen Sommer“, befürchtet Alcausa.

Die 60 000-Einwohner-Stadt Motril in der andalusischen Provinz Granada ist einer der neuen Brennpunkte des Migrationsdramas am Mittelmeer. Zusammen mit den südspanischen Hafenstädten Algeciras, Almería, Cádiz und Tarifa, wo ebenfalls immer mehr Schiffe aus Nordafrika landen.

Spanien ist für die Flüchtlinge zum neuen Italien geworden – zum wichtigsten Zielland in Südeuropa. Während an italienischen Küsten immer weniger Boote ankommen, hat sich die Zahl der Ankünfte in der spanischen Region Andalusien verdreifacht.

Der Rotkreuz-Mann Alcausa glaubt nicht, dass sich dies schnell wieder ändern wird. Der Weg Richtung Italien sei, durch die EU-Zusammenarbeit mit Libyens Küstenwache und Roms restriktiven Kurs, weitgehend gekappt. Deswegen habe sich die Fluchtroute nach Spanien verlagert. Nur mit Abschottung und mehr Grenzschutz lasse sich diese Krise nicht lösen, meint er: „Man kann ja nicht überall Mauern errichten.“

Viele jener Migranten, die an diesem Nachmittag in Motril vom Rettungsschiff „Rio Aragón“ auf die Hafenmole klettern, haben noch Schwimmwesten an. Fast alle sind Schwarzafrikaner aus den Armutsländern unterhalb der Sahara. Nach den ersten Schritten auf dem europäischen Kontinent gehen einige auf die Knie, küssen den Boden. Manche recken triumphierend die Arme in die Höhe.

„Trotz des Dramas, das sie auf ihrer Reise nach Europa durchmachen, sind sie glücklich, wenn sie hier ankommen“, sagt Rotkreuz-Helfer Alcausa. Die Hoffnung auf ein besseres Leben sei offenbar größer als all das Leid, das sie durchgemacht haben.

Mehr Tote in der Wüste, als im Meer

Sie alle müssen auf dem Weg nach Nordafrika die Sahara durchqueren, wo Schätzungen zufolge mehr Migranten sterben als im Mittelmeer. Der 26-jährige Abouo brauchte ein Jahr, um sich von seinem westafrikanischen Heimatland Elfenbeinküste über Mali und Mauretanien durch die Wüste bis nach Marokko durchzuschlagen – unterwegs hat er immer wieder gearbeitet, um Geld für die Weiterreise zu besorgen. „Viele junge Leute in meinem Land wollen nur weg“, sagt er. Und alle hätten nur ein Ziel: Europa.

An der marokkanischen Küste bezahlte Abouo einem Schlepper umgerechnet 800 Euro für die Überfahrt zum 180 Kilometer entfernten Spanien. Ja, er habe Angst im Boot gehabt, berichtet er auf Französisch. Angst, nicht lebend anzukommen. Warum er es trotzdem wagte? „In Afrika gibt es keine Arbeit und viele Probleme.“

In Motril erwartet ihn zunächst die Festnahme. Der junge Afrikaner, der in der Heimat Lastwagenfahrer war, wird,wie alle anderen, die an diesem Tag in Motril stranden, von der Polizei in ein geschlossenes Auffanglager im Hafen überführt. Die Halle, die früher einmal der Fischindustrie diente, ist mit Menschen überfüllt.

Die andalusische Politikerin Maribel Mora von der linksalternativen Partei Podemos äußert sich nach einem Besuch des Lagers entsetzt: „Dies ist ein Haftzentrum, wo sie in Zellen gesteckt werden. Obwohl dies Menschen sind, die auf dem Meer gerettet wurden und viele von ihnen das Trauma eines Schiffbruchs hinter sich haben.“ Auch Frauen und Babys würden dort eingepfercht. Menschenunwürdig sei dies. „Es gibt kaum Platz für die Matratzen auf dem Boden.“

Etwas besser sind die Zustände in einer städtischen Sporthalle im Norden Motrils, wo ein weiteres provisorisches Lager eingerichtet wurde. In diesen geschlossenen Zentren, zu denen auch Medienvertreter keinen Zutritt haben, verbringen die Migranten die ersten 72 Stunden nach ihrer Ankunft. Es sind entscheidende Stunden. In dieser Frist entscheidet die Ausländerpolizei über ihr Schicksal. Über Abschiebung oder Freiheit.

Die meisten werden Glück haben und können später mit Freilassung rechnen. Weil sie im Lager einen Asylantrag stellen, der sie vor Abschiebung schützt. Weil Identität oder Herkunftsland nicht zweifelsfrei geklärt werden können, was eine Rückführung verhindert. Oder schlicht, weil sie schnell Platz für die nächsten Schiffbrüchigen machen müssen.

Fremdenfeindliche Stimmung

„Es mangelt an staatlicher Vorsorge“, beklagt Miguel Salinas, Sprecher der Bürgerplattform „Motril Acoge“ (Motril nimmt auf), welche Migranten mit Kleidung und Lebensmitteln hilft. Und an politischem Willen. „Die Mittel, mit denen hier von den Behörden die Flüchtlinge empfangen werden, sind dieselben wie vor 20 Jahren.“ Er warnt: „Das stetige Gefühl, dass die Lager überfüllt sind, facht eine fremdenfeindliche Stimmung in der Bevölkerung an.“

Davon hat der Polizist, der draußen vor dem Flüchtlingslager Wache schiebt, noch nichts gespürt. Eigentlich darf er nichts sagen. Dann bricht er doch das Schweigen, aber ohne seinen Namen zu nennen: „Erzählt allen die traurige Wahrheit – das ist ein Drama.“ Die Menschen, die er bewachen muss, tun ihm leid: „Das sind sehr anständige Leute. Gehorsam und fleißig. Die machen uns keine Probleme.“

Die meisten Schwarzafrikaner wollten ohnehin nicht in Spanien bleiben, sagt der Beamte. Ein Land, in dem es vom Staat wenig soziale Leistungen für die Migranten gebe. „Die wollen alle nach Frankreich. Und nach Deutschland.“

Warum? „Die gucken in ihren Heimatländern auch Fernsehen“, sagt Rotkreuz-Fachmann Alcausa. „Sie glauben, dass es ihnen in Deutschland oder Frankreich besser geht als in Spanien.“ Motril sei nur eine Zwischenstation und Spanien ein weiteres Transitland auf dem Weg zum Ziel.

Spaniens Rotes Kreuz, das im staatlichen Auftrag handelt, hilft den Migranten, die Reise fortzusetzen: Von Südspanien aus werden die Flüchtlinge mit Butterbrot, Wasserflasche und einem Busticket weiter geschickt – Richtung Norden. So verfahren alle südspanischen Küstenorte, die von Migranten angesteuert werden.

„Nur die Ärmsten der Armen bleiben in Spanien hängen“, bestätigt Pater José, Pastor der katholischen Kirchengemeinde „Señora de la Encarnación“, die nicht weit vom Hafen liegt. Etwa jene, die keine Kontakte in andere Länder haben. Oder denen die Kraft fehlt. Auch für Migranten, die nur tot aus dem Meer geborgen werden können, ist Spanien die letzte Station – sie werden auf dem städtischen Friedhof begraben.

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