In Berlin Bundespräsident Gauck empfängt Angehörige der NSU-Opfer

Berlin · Es gibt Sätze, die bleiben haften. Etwa dieser: "Mein Vater wurde von Neonazis ermordet. Soll mich diese Erkenntnis nun beruhigen? Das Gegenteil ist der Fall." Bundespräsident Joachim Gauck ist immer noch bewegt.

 Bundespräsident Joachim Gauck hört Ismail Yozgat zu, dessen Sohn Halit von Neonazis ermordet wurde.

Bundespräsident Joachim Gauck hört Ismail Yozgat zu, dessen Sohn Halit von Neonazis ermordet wurde.

Foto: dpa

Semiya Simsek hat diese Sätze aufgeschrieben und gesprochen - vor 1400 Menschen bei der zentralen Gedenkveranstaltung für die Opfer der Neonazi-Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) im Berliner Konzerthaus vor einem Jahr. Simsek hatte damals vier Minuten und 45 Sekunden Zeit für die Erinnerung an ihren Vater Enver Simsek, dessen Leben die mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im September 2000 mit acht Kugeln aus zwei Pistolen auslöschten. Tochter Semiya war damals 14 Jahre alt. Deutschland, das Land, von dem sie glaubte, es sei ihre Heimat, wollte sie verlassen.

Gauck zitiert die bewegenden Worte Simseks, als er am Montag im Schloss Bellevue etwa 70 Hinterbliebene der NSU-Mordopfer empfängt. Er erinnert nicht nur an die Sätze, das deutsche Staatsoberhaupt bestätigt sogar, dass es "weiterhin Grund" gebe, "beunruhigt zu sein".

Gauck will eine andere Atmosphäre, ein anderes (Selbst)Verständnis vom Zusammenleben von Migranten und der deutschen Mehrheitsbevölkerung: "Es darf nicht sein, dass sich Menschen, die zum Teil schon seit Generationen in Deutschland leben, fragen müssen, ob sie hier wirklich zu Hause sind und ob sie sich hier auch sicher fühlen können. Alle Menschen in unserem Land müssen darauf bauen können, dass unser Staat sie schützt."

Gauck hat zu diesem Treffen nicht alle Hinterbliebenen der NSU-Mordopfer zufriedenstellen können. Einige sind erst gar nicht gekommen, weil ihnen der Kreis der Eingeladenen zu groß erschien oder weil sie ihre Rechtsanwälte nicht mitbringen durften.

Der Bundespräsident betont, er wolle "mithelfen, dass Ihr Leid wahrgenommen" werde. In all den Jahren der Ermittlungen nach den Morden hätten die Angehörigen der neun Migranten unter den zehn NSU-Mordopfern "Trost und Unterstützung" gebraucht. Stattdessen seien sie "verdächtigt, gedemütigt und allein gelassen worden". Gauck möchte den Angehörigen das Gefühl geben, dass sie eben nicht im falschen Land lebten. Er zitiert Artikel 1 des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Dazu gehört auch die Judikative, die richterliche Gewalt im Staat, vor der sich ab Mitte April die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe verantworten muss. Gegen Zschäpe, die seit November 2011 in Haft ist und gegen die die Bundesanwaltschaft Anklage erhoben hat, wird vor dem Oberlandesgericht in München das Strafverfahren eröffnet. Fünf der zehn dem NSU zugeschriebenen Morde fanden in Bayern statt.

Viele der Hinterbliebenen wollen bei dem Prozess gegen Zschäpe dabei sein, manche sogar an jedem Verhandlungstag, wie die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Barbara John, betont. Nun am Prozess teilzunehmen, sei für sie wichtig, auch um zu erleben, "dass die Nation sieht, was da eigentlich passiert ist".

John findet bis heute keine Erklärung dafür, dass Vertreter deutscher Sicherheitsbehörden in diversen Untersuchungsausschüssen bislang kaum Fehler eingestehen wollten. Sie würden nach dem Motto verfahren: "Wir haben zur damaligen Zeit alles richtig gemacht."

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