Nach Schwächung von Theresa May Brüssel bangt um die Brexit-Gespräche

London · Nach der Parlamentswahl in Großbritannien befürchtet die EU, dass eine geschwächte Premierministerin Theresa May bei den Brexit-Verhandlungen weniger kompromissfähig sein könnte.

Für Schadenfreude gab es keinen Grund. Als am Freitagvormittag die ersten Wahlergebnisse aus dem Vereinigten Königreich in Brüssel eintrafen, machten sich vor allem Sorgenfalten breit. Eine deutlich geschwächte britische Regierungschefin Theresa May werde „nervöser sein“, befürchtete der Vizepräsident des Europäischen Parlamentes, der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff. „May kommt mit einer Torte im Gesicht nach Brüssel“, lautete sein Fazit.

Derweil bemühten sich EU-Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker um Durchhalteparolen. „Der Staub in Großbritannien muss sich jetzt legen“, erklärte Juncker, „Wir sind seit Monaten bereit, den Brexit zu verhandeln. Wir können morgen Früh anfangen.“ Und Tusk betonte eine Spur skeptischer: „Wir wissen nicht, wann die Brexit-Gespräche starten. Wir wissen, wann sie abgeschlossen sein müssen.“

Der ursprüngliche Plan sah vor, dass EU-Chefunterhändler Michel Barnier sich am 19. Juni zum ersten Mal mit der Delegation aus London zusammensetzen sollte. Doch das erscheint kaum noch möglich. Barnier wollte am Freitag nicht gleich aufgeben, sondern riet: „Lassen Sie uns die Köpfe zusammenstecken und einen Kompromiss finden.“ Doch auch er wusste da schon, dass das schwierig bis unmöglich werden könnte. „Ob die andere Verhandlungsseite überhaupt beginnen kann, wird sich in den nächsten Tagen zeigen müssen“, meinte auch der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger: „Denn ohne Regierung keine Verhandlungen.“

May geht geschwächt in die Gespräche

Tatsächlich tut sich die EU schwer, die Botschaft der britischen Wähler zu entziffern. Vor fast einem Jahr gab es eine Mehrheit für den Ausstieg des Landes aus der Gemeinschaft. Nun hat ausgerechnet die konservative Premierministerin, deren zentrale und durchaus bedrohliche Botschaft „Lieber kein Deal als ein schlechter“ lautete, eine „krachende Niederlage“ (so der ehemalige EU-Parlamentspräsident und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz) erlitten.

Sicher scheint nur, dass Theresa May nicht wie erhofft gestärkt in die Brexit-Gespräche gehen kann, sondern geschwächt. „Brüssel kann abwarten und Tee trinken, bis die Briten ihr Chaos geklärt haben“, sagte Lambsdorff. Tatsächlich könnte es für eine geduldete Minderheitsregierung in Westminster schwer werden, Absprachen mit den Europäern über Reizthemen wie die Duldung der bereits in Großbritannien lebenden EU-Ausländer oder Übernahme bestehender finanzieller Verpflichtungen in Höhe von geschätzt 100 Milliarden Euro zu akzeptieren.

Und wie die Regierung diese zu Hause ohne verlässliche Mehrheiten durchsetzen will, ist nicht erkennbar. Dabei ist die grundsätzliche Frage, wie die Verhandlungen überhaupt in der vertraglich festgesetzten Frist von zwei Jahren bis zum 29. März 2019 durchgezogen werden können, völlig offen. Diese Zeitschiene wäre zwar verlängerbar. Aber das müssten die 28 derzeitigen EU-Mitgliedstaaten einstimmig beschließen.

Mays Spielraum, so der Brüsseler Flurfunk, ist enger geworden. „Die Stärke einer Regierungschefin bleibt entscheidend für ihre Kompromissfähigkeit“, betonte der langjährige Chef des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, Elmar Brok (CDU). Soll heißen: Die Schwäche Mays ist ein zusätzliches Risiko für die bevorstehenden Verhandlungen.

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