Nach dem Anschlag in Nizza Am Strand wehen die Fahnen auf halbmast

Nizza · Diesen Samstag werden Walid und Dunja nie vergessen. Und zwar nicht nur, weil sie sich an diesem warmen Julitag das Jawort gegeben haben. In Anzug, weißer Brautrobe und mit betroffenen Mienen stehen sie an der Strandpromenade von Nizza, der Promenade des Anglais.

Auf den Berg an Blumen, Kerzen, Karten legen auch sie Blumen, sie sind für die Opfer des Attentates vom 14. Juli. „Was passiert ist, bewegt uns sehr. Wir wollten eigentlich genau gegenüber heiraten“, sagt Walid. Sie wichen dann an einen anderen Ort aus. „Meine Familie und ich waren wie jedes Jahr am 14. Juli hier, nur diesmal habe ich meinen Junggesellinnenabschied gefeiert. Das hat uns vielleicht gerettet“, ergänzt seine Braut. „Den Strand so zu sehen, ist bitter.“

Dabei bemüht sich die Stadt, der Mittelmeer-Metropole rasch wieder ihr strahlendes Antlitz zurückzugeben. Die Wege wurden gesäubert, wo am Donnerstagabend 84 Menschen, darunter zehn Kinder und Jugendliche, umkamen, brutal überfahren vom 31-jährigen Mohamed Lahouaiej Bouhlel. 30 000 Schaulustige befanden sich an der Flaniermeile, um das traditionelle Feuerwerk zum Nationalfeiertag anzusehen – das nutzte der Täter für seinen Massenmord. Einen zuvor angemieteten 19 Tonnen schweren Kühltransporter fuhr er in die verkehrsberuhigte Promenade und raste sie über 1,7 Kilometer entlang, bis die Polizei ihn erschießen konnte. Von den 303 Verletzten schwebten am Sonntag noch 26 in Lebensgefahr. Der jüngste Patient ist ein sechs Monate alter Säugling.

Inzwischen sonnen sich wieder Urlauber auf dem Strand unterhalb der Promenade, vor dem azurblauen Meer. Doch es sind viel weniger als sonst zur Hochsaison. Eineinhalb Millionen Menschen reisen in den Sommermonaten hierher, davon 70 Prozent Ausländer. „Natürlich wird es Auswirkungen haben. Auf der verbleibenden Saison liegt eine Hypothek“, sagt der Leiter des städtischen Tourismusbüros, Denis Zanon. Unter den Opfern befanden sich viele Ausländer, auch drei Deutsche starben. „Manche Gäste fuhren noch in der Nacht vom Donnerstag direkt zum Flughafen, ohne nochmals ins Hotel zu kommen“, berichtet Hotelbesitzer Michel Tschann. Doch momentan wurden die vielen Stornierungen und verfrühte Abreisen abgefedert durch Journalisten aus der ganzen Welt, die nach Nizza kamen, um über den grauenvollen Anschlag zu berichten.

Die Frage, wer der Mann war, der so viel Leid anrichtete, führt sie in ein ärmliches Viertel im Nordosten der Stadt zum Wohnhaus von Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der vor einigen Jahren nach Frankreich kam, eine befristete Aufenthaltsgenehmigung hatte und als Lieferfahrer arbeitete. Er lebte getrennt von seiner Frau, die ihn wegen Gewalt in der Ehe angezeigt hatte, und den drei kleinen Kindern. Nachbarn beschreiben ihn als seltsam und verschlossen, in seinem Fitnessstudio war er als „Aufreißer“ bekannt, sein in Tunesien lebender Vater sprach gegenüber der britischen BBC von „schweren psychischen Problemen“.

Mehrmals fiel er den Behörden wegen Gewalttätigkeit auf, erst im März wurde er zu einer sechsmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt, weil er bei einem Verkehrsstreit mit einer Holzpalette auf einen Mann losgegangen war. Zwar hieß es zunächst, Lahouaiej Bouhlel sei kein praktizierender Muslim gewesen, habe geraucht und Alkohol getrunken. Am Sonntag zitierten französische Medien Zeugen, die seine „islamistische Radikalisierung“ bemerkt hätten. Insgesamt sieben Menschen aus seinem Umfeld, darunter seine Ex-Frau, wurden in Untersuchungshaft genommen. Der 31-Jährige soll vor wenigen Tagen sein Konto geleert und seiner Familie in Tunesien eine hohe Geldsumme geschickt haben. Die Videoüberwachungskameras von Nizza zeigen ihn kurz vor dem 14. Juli an der Promenade des Anglais, die er offenbar im Vorfeld inspiziert hat. Die Tat war vorbereitet.

Premierminister Manuel Valls sprach schnell von einem „Terroristen, der ohne Zweifel auf die eine oder andere Weise mit dem radikalen Islamismus in Verbindung stand“. Am Samstag bekannte sich die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) im Internet zu der Tat, die Echtheit der Erklärung blieb aber noch unbestätigt, wird aber vom französischen Dschihad-Spezialisten David Thomson als glaubwürdig eingestuft. Der Attentäter müsse sich sehr schnell radikalisiert haben, sagte Innenminister Bernard Cazeneuve. Noch durchforsten die Ermittler seine Telefonkontakte. Eine SMS wirft Fragen auf, in der er schrieb: „Ich habe das Material.“

In Nizza und Umgebung gilt die salafistische Szene als besonders aktiv und gefährlich. Die Behörden wissen von fast 100 Menschen aus der Region, die nach Syrien oder in den Irak ausgereist sind. Zugleich handelt es sich um eine der Hochburgen des rechtsnationalen Front National: Viele Menschen hier haben Vorbehalte gegenüber der hohen Zahl an Menschen mit Wurzeln in den ehemaligen Kolonien in Nordafrika.

Die Leute hätten genug vom Klima der Aggression, sagt ein Arzt, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Ich praktiziere hier seit mehr als 30 Jahren und habe viele gut integrierte Patienten aus dem Maghreb. Aber zugleich gibt es immer mehr Parallelgesellschaften, immer mehr verschleierte Frauen, immer mehr Gewalt.“ Der Anschlag habe ihn nicht überrascht, früher oder später „musste so etwas passieren“, sagt er: Die Menschen seien wütend, fühlten sich trotz des „sogenannten Ausnahmezustandes“ nicht geschützt und fragten sich, wie der Attentäter unbehelligt auf die gesperrte Strandpromenade fahren konnte.

Auch die Opposition greift die Regierung scharf an, ohne Rücksicht auf die Appelle von Präsident François Hollande, der zur nationalen Einheit und zur Besonnenheit aufrief. Rechtspopulistin Marine Le Pen erkannte „sehr schwere Unzulänglichkeiten des Staates in seiner wichtigsten Aufgabe, dem Schutz unserer Mitbürger“ und forderte Innenminister Cazeneuve zum Rücktritt auf. Dieser kündigte an, die Zahl der Sicherheitskräfte von rund 100 000 Leuten noch ausbauen zu wollen, und rief „patriotische Bürger“ zum Reservedienst auf. Seit Jahresbeginn seien 160 des Terrors Verdächtige festgenommen worden: „Das konnte eine gewisse Anzahl an Attentaten verhindern, von denen einige während der Fußball-Europameisterschaft hätten durchgeführt werden können.“

Er habe einen Anschlag während der EM befürchtet, die auch im Stadion von Nizza ausgetragen wurde, sagt der 20-jährige Student Maxime Courteboeuf. „Im Nachhinein erscheint ein Attentat ausgerechnet am 14. Juli zwar logisch – aber mich hat es sehr schockiert.“ Auch wenn alle kulturellen Veranstaltungen in Nizza abgesagt wurden, sehe er jetzt nur eine Lösung: weiter zu leben wie bisher. „So schwer es fällt.“

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