Nahost-Konflikt 15 Sekunden bis zum Raketeneinschlag

SDEROT · Militante Palästinenser im Gazastreifen haben am Mittwoch erneut den Großraum Tel Aviv mit Raketen angegriffen. Im Stadtzentrum heulten die Warnsirenen, Menschen eilten in die Schutzräume.

Elegante Paare, Frauen in bodenlangen Kleidern, ihre Tanzpartner im schwarzen Frack, liegen sich in den Armen und drehen ihre Kreise unter Kronleuchtern. Eine Ballszene, vielleicht im Paris der Belle Epoque. Vergangenen Donnerstag ist das große Bild mit dem heiteren Motiv von der Wand gestürzt.

Dübel und Schrauben weisen auf den Platz hin, an dem es hing. Eine Kassam-Rakete, abgefeuert aus dem Gaza-Streifen, ist in der Nacht im Haus der Familie Amar eingeschlagen, hat ein Loch in die Brüstung des Treppenaufgangs gerissen und eine Fensterscheibe im Wohnzimmer zu Bruch gehen lassen.

Die beiden sieben und elf Jahre alten Töchter von Alice Amar wollen seitdem nicht mehr das Haus verlassen, obwohl in Israel die Schulferien begonnen haben. "Jetzt kann ich nicht mal mehr zur Arbeit gehen, weil ich die Mädchen nicht allein lassen kann", sagt die 43-Jährige, die als Serviererin in einem Restaurant arbeitet.

Die Familie Amar wohnt keine sieben Kilometer vom Gazastreifen entfernt in der 20.000-Einwohner-Stadt Sderot. Seit 2001 leben die Menschen hier unter dem Beschuss von Mörsergranaten und Raketen, die palästinensische Terroristen in dem von der radikalislamischen Hamas kontrollierten Gebiet auf Israel abfeuern.

Eine Ladenzeile im Zentrum Sderots, auf dem Parkplatz davor sind am Nachmittag nur wenige Menschen unterwegs. Jederzeit kann über Lautsprecher eine "Rote Farbe"-Warnung ertönen. Bei "Zewa adom", so auf Hebräisch, weiß jeder Bewohner, dass ihm nur 15 Sekunden Zeit bleiben, um vor der nächsten Rakete in einen Schutzraum zu flüchten.

"Vor dem Zubettgehen frage ich mich immer, ob ich einen Schlafanzug anziehe oder in einer Kleidung bleibe, mit der ich auch auf die Straße flüchten kann", sagt Faina Kalnsky, die vor mehr als 20 Jahren aus der Ukraine nach Israel kam. Aber jetzt haben sie und ihr Mann sich ein Haus mit einem Schutzraum gekauft, so dass sie sich darüber keine Gedanken mehr machen muss.

Die Mittfünzigerin mit dem kurzen schwarzen Haar findet die Situation unerträglich: "Unsere Armee ist so stark. Aber die Regierung unternimmt nichts, um den Raketenbeschuss ein für alle Mal zu beenden."

Eine Straße weiter bringt die 33-jährige Mali Katzman ihren kleinen Sohn zum Friseur. "Unser Kibbutz liegt nur einen Kilometer vom Gazastreifen entfernt", berichtet die Sonderschullehrerin. "Mein Mann ist dort geboren, wir haben drei Kinder und wir sind von der Idee des Kibbutzlebens überzeugt."

Es gibt viele Vergünstigungen, auch steuerlicher Art, für die Katzmans. So gibt es viele Gründe, warum Mali vor zweieinhalb Jahren aus Jerusalem in den Südwesten gezogen ist. Und trotzdem: Mit dem Raketenbeschuss kann sie nicht leben. "2012 bei der letzten größeren Operation unserer Armee gegen Gaza war der Jüngste gerade einen Monat alt. Ich bin wochenlang bei Freunden und Verwandten weiter im Norden untergekommen. Ich kann genau am Geräusch unterscheiden, ob eine Kassam-Rakete eingeschlagen ist oder die Israelis gebombt haben", sagt sie.

Alon Schuster ist der Vorsitzende des Regionalrats von Schaar HaNegev, dem "Tor zur Wüste", wie das Verwaltungsgebiet rund um Sderot heißt. Schusters Vater kam aus Deutschland und hat vor 70 Jahren eines der zehn Kibbutzim in Schaar HaNegev gegründet. "Die Lage hier ist wirklich kompliziert", sagt Schuster mit beinahe englischem Understatement.

Trotzdem zögen die wenigsten Familien weg. "Wir haben in den vergangenen Jahren viel unternommen, um die Bedrohung für die Bevölkerung zu verringern." Auf Spielplätzen wurden Betonbunker errichtet, Bushaltestellen wurden zu Schutzräumen umgebaut. Jedes Kind weiß, was es bei Sirenengeheul oder dem "Rote-Farbe"-Ruf zu tun hat.

Mehr als 15.000 Mörsergranaten und Raketen sind seit 2001 über Israel niedergegangen. Die meisten landen in unbewohntem Gebiet, aber eben nicht immer. Ende Juni wurde im Gewerbegebiet von Sderot eine Farbenfabrik getroffen, die Chemikalien explodierten, vier Mitarbeiter entkamen mit viel Glück mit leichten Verletzungen. Wäre nicht Wochenende gewesen, hätte es in einer Katastrophe enden können.

So wie am 27. Februar 2008: Da stieg der 47-jährige Roni Jechije, ein Student und vierfacher Vater, auf dem Parkplatz des Sapir-College in Schaar HaNegev aus seinem Wagen und wurde von einer Kassam getroffen. Ein Gedenkstein am Eingang des College-Geländes erinnert an ihn.

So kann man die Zahl von rund 50 Toten durch Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen als relativ gering betrachten, was auch mit dem Raketenabwehrsystem "Eiserne Kuppel" zu tun hat, das seit 2011 in Betrieb ist. Der Hamas-Experte Uri Rosset, der am Sapir-College unterrichtet, meint: "Die Bedrohung ist mehr psychologisch als real, aber wir sind alle irgendwie traumatisiert." Nur: Wer so nah am Gazastreifen wie etwa die Familie Katzman lebt, dem hilft kein Raketenschild.

Rafi Babijan ist im Stadtrat von Sderot für die Sicherheit zuständig. "All die Sicherheitsvorkehrungen sind für uns normale Routine in einer unnormalen Situation", erklärt er und weist auf einen Traktor hin, der vor der Silhouette der Hochhäuser von Gaza-Stadt ein Feld umpflügt.

"Für den Fahrer gibt es keinen Schutz, wenn eine Rakete fliegt." Wie es weitergehen soll, weiß keiner. In einem jedenfalls sind sich Babijan, Rosset und Schuster einig: Wenn Israel die Hamas zerschlagen würde, sei zu befürchten, dass wie bei der Hydra neue Köpfe nachwachsen würden. "Ich glaube nicht, dass die Hamas das schlimmste Regime ist, das wir uns vorstellen können", sagt Schuster.

Die Al-Kassam-Brigaden

Die Issedin Al-Kassam-Brigaden sind der militärische Arm der radikal-islamischen Palästinenserorganisation Hamas und für viele tödliche Anschläge auf Israelis verantwortlich. Die Hamas bestreitet das Existenzrecht Israels. Sie und ihre Milizen werden unter anderem von den USA und der Europäischen Union (EU) als Terrororganisation eingestuft.

Doch nicht nur Selbstmordanschläge gehen auf das Konto der Brigaden. Am 25. Juni 2006 waren sie auch an der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit beteiligt. Er kam am 18. Oktober 2011 frei - im Austausch gegen mehrere Hundert palästinensische Gefangene.

Über die Zahl von Kämpfern der Al-Kassam-Brigaden gibt es lediglich Schätzungen - es sollen nach unterschiedlichen Angaben vermutlich mindestens 10 000 sein. Die Miliz selber spricht außerdem von mehreren Hundert getöteten oder inhaftierten Mitgliedern.

Scheich Issedin al-Kassam ist der Namensgeber der Gruppe: Er kämpfte gegen die französische Besetzung Syriens und die britische Mandatsverwaltung in Palästina. 1935 wurde er getötet.

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