GA-Interview mit Norbert Röttgen „Zum ersten Mal kann Europa scheitern“

Bonn · Norbert Röttgen hält die Dimension der Konflikte und des Chaos im Nahen Osten für revolutionär. Er fordert deshalb eine gemeinsame europäische Antwort auf Terror und Fluchtbewegung. Mit dem CDU-Politiker sprachen Ulrich Lüke, Helge Matthiesen und Sandro Schmidt.

 Ausharren im strömenden Regen: Im Flüchtlingslager von Idomeni wärmen sich Flüchtlinge an einem Lagerfeuer.

Ausharren im strömenden Regen: Im Flüchtlingslager von Idomeni wärmen sich Flüchtlinge an einem Lagerfeuer.

Foto: dpa

Muss sich die EU nach Brüssel Vorwürfe machen?
Norbert Röttgen: Die Terroristen wollen zwei Dinge erreichen: Sie verbreiten Angst, um uns zu spalten und um uns wegzudrängen von einem Engagement im Nahen Osten. Wir müssen darauf mit Entschlossenheit und Gemeinsamkeit antworten.

Gibt es genug gemeinsames Vorgehen der Sicherheitsbehörden?
Röttgen: Insgesamt gibt es zu wenig Gemeinsamkeit. Zuallererst zu wenig politische Gemeinsamkeit. Die neue Dimension der Konflikte und des Chaos im Nahen Osten wird sich auf lange Sicht auf die Stabilität und Sicherheit in Europa übertragen. Diese Dimension halte ich für revolutionär und wir müssen daraus Konsequenzen ziehen, die nicht nur an die Symptome sondern an die Wurzeln herangehen.

Was wären das für Konsequenzen?
Röttgen: Wir müssen überhaupt damit anfangen, eine europäische Nahostpolitik zu bilden. Die gibt es noch nicht. Es gibt nicht das eine Konzept, die eine Strategie, den einen Auftritt. Eine der Hauptursachen des Terrorismus dort ist die Perspektivlosigkeit, die junge Menschen in die Verzweiflung treibt. Und diplomatische Initiativen, die ernst genommen werden sollen, setzen auch europäische militärische Fähigkeiten voraus.

Ist das ein günstiger Moment, mehr Europa zu fordern?
Röttgen: Ich halte den Augenblick nicht nur für günstig, sondern die Notwendigkeit einer europäischen Antwort angesichts von Terrorismus und Fluchtbewegung für zwingend. Die einen kommen, weil sie unsere Lebensweise ersehnen; die anderen, weil sie unsere Lebensweise hassen. Mit beiden Phänomenen werden wir es auf lange Sicht zu tun haben. Vereinzelung ist da Schwäche, Gemeinsamkeit Stärke.

Erinnern Sie sich an eine Phase in der EU, in der Solidarität schwächer war als derzeit?
Röttgen: Nein. In Europa war man es gewohnt zu sagen, in der Krise liege die Chance. Die Krise war quasi der Modus der europäischen Integration. Die jetzige Krise ist anders. Es ist zum ersten Mal eine fundamentale, eine lebensbedrohliche Krise der Solidarität, und zum ersten Mal kann Europa scheitern.

Was gehörte zu dieser Solidarität?
Röttgen: Dazu gehört die Flüchtlingskrise. Aber es ist gerade aus deutscher Sicht wichtig zu erkennen, dass es auch noch andere sehr bedeutsame Themen in Europa gibt, die auch solidarisch gelöst werden müssen. Auch hier muss Deutschland zu solidarischen Lösungen bereit sein, sonst wird es auch in der Flüchtlingskrise keine solidarische Lösung geben.

Welche Themen?
Röttgen: Für Frankreich und Italien ist die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit die Herausforderung Nummer eins. Da helfen deutsche Belehrungen nicht. Das ist ein spaltendes Thema in Europa. Für Polen und die baltischen Staaten ist es die wahrgenommene Bedrohung ihrer Sicherheit durch Russland. Das heißt: Es gibt in Europa eine umfassende Solidaritätskrise. Deutschland muss deshalb die Initiative für einen umfassenden europäischen Kompromiss ergreifen. Für eine umfassende Solidarität. Es wird keine Teilsolidarität geben. Europa darf nicht in dieser allumfassenden Handlungsunfähigkeit verharren. Wir sind gefordert wie nie zuvor.

Machen die Bürger da mit?
Röttgen: Ich glaube, die Bürger sehen, dass es nicht mehr die Zeit ist zu fragen: Wer hat Recht. Die Lage ist zu ernst für Rechthaben. Wir müssen zu Ergebnissen kommen.

Das heißt mehr Entgegenkommen?
Röttgen: Die Initiative muss von Deutschland ausgehen. Wenn die deutsche Regierung in der Wirtschaftsfrage einen Schritt etwa auf Frankreich zugeht, dann könnte es Paris möglich sein, in der Flüchtlingsfrage einen Schritt auf Deutschland zuzugehen. Ähnliches gilt etwa für Polen beim Thema Sicherheit. Die Phase der wechselseitigen Überzeugungsversuche ist an ihr Ende gekommen.

Mit dem Türkei-Deal ist das Flüchtlings-Thema also nicht erledigt?
Röttgen: Nein. Keinesfalls. Die Türkei ist sicherlich ein Schlüsselland, aber nicht der Schlüssel. Weder politisch noch geographisch. Es gibt auch andere Flüchtlingsrouten. Die aktuelle Vereinbarung kann ein Lösungsbeitrag sein. Nun muss man testen, ob es auch funktioniert. Es ist also weder der Durchbruch noch das Desaster. Der Schritt betrifft maximal 72000 Flüchtlinge, also eine kleinere Zahl, an deren Verteilung sich nach meiner Erwartung mehrere europäische Länder beteiligen werden.

Ist die europäische Gemeinsamkeit umso wichtiger, als die USA sich so zurückhalten?
Röttgen: Eindeutig ja. Obama hat deutlich gemacht, dass es für die USA andere Prioritäten als den Nahen Osten gibt. Jeder künftige Präsident wird auch nicht mehr zu dem alten Engagement im Nahen Osten zurückkehren. Sie brauchen das Öl nicht mehr und haben dringende innenpolitische Aufgaben.

Gibt es noch eine Wertegemeinschaft?
Röttgen: Wir müssen uns mehr denn je wieder als solche verstehen. Denn neben den militärischen Konflikten nimmt doch die ideologische Auseinandersetzung immer mehr zu. Sogar in Europa. Der ungarische Ministerpräsident propagiert die illiberale Demokratie, die auch bei der neuen polnischen Regierung favorisiert wird. Wir haben in den USA eine große ideologische Auseinandersetzung. Der mögliche Präsidentschaftskandidat Donald Trump redet über Folter, Muslime und dergleichen in einer Tonlage, die ich noch vor Kurzem für völlig unmöglich gehalten habe. Oder: Der türkische Präsident erklärt öffentlich: Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit hätten für ihn absolut keinen Wert mehr. Wir haben also ein neues globales Werte-Durcheinander.

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