Deutsch-türkisches Verhältnis „Wir leben in einer vaterlosen Gesellschaft“

Bonn · Kazim Erdogan, einer der führenden Integrationsexperten Deutschlands, sieht als Grund für die wachsende Zustimmung unter den Deutschtürken für die Politik des türkischen Staatschefs Erdogan einen Mangel an Anerkennung. Jasmin Fischer hat mit ihm gesprochen.

 Der türkischstämmige Psychologe Kazim Erdogan spricht am Mittwoch (05.09.2012) in seinem Büro im Bezirksamt Neukölln in Berlin. Erdogan veranstaltet regelmäßig in Berlin die „Woche der Sprache und des Lesens“ und gründete 2007 die erste türkische Vätergruppe Deutschlands. Foto: Florian Kleinschmidt dpa/lbn (Zu dpa-Interview „Psychologe Erdogan: „Wir müssen mehr miteinander reden““ vom 12.09.2012) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit

Der türkischstämmige Psychologe Kazim Erdogan spricht am Mittwoch (05.09.2012) in seinem Büro im Bezirksamt Neukölln in Berlin. Erdogan veranstaltet regelmäßig in Berlin die „Woche der Sprache und des Lesens“ und gründete 2007 die erste türkische Vätergruppe Deutschlands. Foto: Florian Kleinschmidt dpa/lbn (Zu dpa-Interview „Psychologe Erdogan: „Wir müssen mehr miteinander reden““ vom 12.09.2012) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit

Foto: picture alliance / dpa

Es fällt schwer, zu verstehen, warum sich in Köln 50.000 Deutschtürken – aufgewachsen in dieser Gesellschaft – mit einem autoritären Staatschef wie Recep Tayyip Erdogan solidarisch erklärt haben. Spüren Sie diese Entfremdung?

Kazim Erdogan: Ja, ein Gefühl der Entfremdung oder des Fremdelns stelle ich auch fest. Ich rede ja ständig davon. Da hätte mich etwas anderes überrascht. Auch nach 55 Jahren der Zuwanderung haben wir nicht zueinander finden können. Ich möchte die Fortschritte nicht schmälern, aber für mich ist das Erreichte nicht genug. Es gibt noch viel zu tun. Wir müssen anfangen zu überlegen, was wir konkret tun können, dass alle Menschen, die in Deutschland leben, statt eines Übereinanders und Durcheinanders ein Miteinander schaffen. Wir müssen ein Wir-Gefühl entwickeln!

Warum feiern junge türkischstämmige Deutsche einen Präsidenten, der in der Türkei Grundrechte außer Kraft setzt, von denen sie hier profitieren?

Erdogan: Man kann die Atmosphäre auch aus einer anderen Perspektive betrachten. In Köln haben nur 50 000 von über drei Millionen in Deutschland lebender Türken demonstriert – und einige waren sogar aus Belgien und Holland angereist. So gesehen war es keine Veranstaltung der Mehrheit. Die Gründe der Teilnehmer sind vielschichtig. Viele von denen, die die türkische Flagge getragen haben, kennen das Land ihrer Eltern oder Großeltern nur aus Urlauben. Sie haben einen „Friede, Freude, Eierkuchen“-Eindruck von der Türkei und wissen nicht, was sich dort wirklich abspielt. Die Mehrheit von ihnen leidet auch unter dem Gefühl, dass sich ihre beruflichen, gesellschaftlichen und sozialen Ziele in Deutschland nicht erfüllen. Menschen, die sich benachteiligt fühlen, kommen mental nicht an. Sie kapseln sich schnell ab, wenn es Gründe gibt – und Gründe gibt es. Junge Türken fühlen sich als Menschen zweiter, dritter Klasse.

Nennen Sie bitte ein Beispiel.

Erdogan: Naja, meinen Töchtern sagt man immer mal: „Sie sprechen aber gut Deutsch.“ Oder: „Warum studieren Sie Germanistik – als Ausländerin?“ Meine Töchter sind hier in Deutschland geboren, dennoch wird ihnen durch solche Äußerungen der Eindruck vermittelt, nicht Teil dieses Landes zu sein. Wenn Eltern ihren Kindern nun einimpfen, dass sie, nur weil sie Ayse oder Hasan heißen, keine Stelle in Deutschland bekommen, dann verstärkt das die Minderwertigkeitsgefühle. Viele der Demonstranten in Köln haben keine gefestigte Identität. Sie stehen zwischen Baum und Borke. Da kann man keine dauerhaft konstante Haltung erwarten

Sehen viele Deutschtürken Recep Tayyip Erdogan als Vaterfigur?

Erdogan: Ja, weil wir in einer vaterlosen Gesellschaft leben. Viele sehnen sich nach einer starken Figur, eine, die ernst ist, nie lacht – wie mein Namensvetter. Das gilt auch für Deutsche ohne Zuwanderungsgeschichte, im Besonderen aber für die türkische Community. Hier liegt die Scheidungsquote bei 60 bis 70 Prozent. Männliche Vorbilder fehlen. Und es ist kein Zufall, dass Intensivtäter oder Dschihadisten aus vaterlosen Familien stammen. Das Problem geht uns alle an. Ich freue mich über weibliche Fachkräfte, aber in Kitas und Grundschulen stellen sie 99 Prozent des Personals. Zur Erziehung aber gehören auch Männer, die Verantwortung übernehmen, Männer, die etwas von Gesellschaft und Politik verstehen und mit den Kindern darüber ins Gespräch kommen. Es reicht nicht, mit dem Sohn nach Köln zu fahren und die türkische Fahne zu schwenken.

In Köln sah man türkische und deutsche Flaggen. Was ist denn Heimat für junge Deutschtürken?

Erdogan: Das muss jeder für sich definieren. Grob gesagt: Heimat ist da, wo ich satt werde und wo ich angenommen werde. Es gibt ja durchaus auch Deutsche, die sozial benachteiligt sind, obwohl sie hier geboren wurden – auch sie dürften sich heimatlos fühlen. Dass Menschen sich nicht akzeptiert fühlen, gehört zur Demokratie. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Und welche Hausaufgaben müssen wir machen?

Wie wird aus Entfremdung mehr Miteinander?

Erdogan: Ich mag den Begriff Integration nicht, da er inzwischen auf gute oder schlechte Deutschkenntnisse reduziert ist. Ich spreche lieber von Partizipation und Teilhabe – und die ist wie ein Säugling, der jeden Tag neu auf die Welt kommt und Zuneigung, Betreuung und Beaufsichtigung braucht. Das ist keine Einbahnstraße. Schön wäre es also, wenn Deutsche und Deutschtürken sich in der goldenen Mitte treffen würden, wenn auch Deutsche sich für Sitten, Normen und Werte anderer mit Zuwanderungsgeschichte interessierten, damit diese ein Gefühl des Willkommens und der Anerkennung spüren können. Es geht nicht nur darum, Deutschtürken teilhaben zu lassen, sondern aktiv an ihren Aktivitäten teilzunehmen. Wertschätzung kann auch als Lob daherkommen. Vielen jungen Deutschtürken würde ich gern sagen: Hut ab vor Eurer Leistung! Ohne adäquate Kommunikation aber bleibt das Nebeneinander bestehen.

Vertieft die Burkini-Burka-Debatte die Gräben zwischen Deutschen und Türken?

Erdogan: Sie ist eine Schande. Wir haben rund 500 Burka-Trägerinnen in Deutschland – bei 82 Millionen Einwohnern. Es gibt größere soziale Probleme, die wir nicht annähernd so intensiv diskutieren. Rechte Parteien setzen die Agenda. Es gibt nur wenige Politiker, die standhaft bleiben und davor warnen, sich die positive Atmosphäre in Deutschland vergiften zu lassen. Ähnlich verhält es sichmit der hirnrissigen Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft. Viele konvertierte Deutsche, die inSyrien kämpfen, haben nur den deutschen Pass, ich als Türkischstämmiger hingegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Wer engagiert sich nun mehr für das Miteinander in Deutschland? Da könnte ich mich zurecht angegriffen fühlen.

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