Interview mit Peer Steinbrück „Die Politik scheut sich zu entscheiden“

Bonn · In seinem Abschiedsinterview spricht Peer Steinbrück, der scheidende SPD-Abgeordnete und Ex-Kanzlerkandidat, mit Ulrich Lüke über die Lage seiner Partei, die Führungsfähigkeit von Regierung und Opposition, Defizite der Kanzlerin und das Verhältnis zu den Medien.

 „Ich setze nach wie vor auf die Vernunft aller Beteiligten“, sagt Peer Steinbrück zur Lage der EU nach der Brexit-Entscheidung. FOTO: DPA

„Ich setze nach wie vor auf die Vernunft aller Beteiligten“, sagt Peer Steinbrück zur Lage der EU nach der Brexit-Entscheidung. FOTO: DPA

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Herr Steinbrück, Ende September geben Sie Ihr Bundestagsmandat zurück und beenden damit Ihre politische Karriere. Was könnte Sie noch umstimmen?

Peer Steinbrück: Nichts mehr. Alte Zirkuspferde und betagte Politiker müssen die Manege irgendwann und möglichst durch das große Tor verlassen. Es gibt auch noch ein Leben nach der Politik.

Sie sind 23 Jahre Minister, Ministerpräsident, Bundestagsabgeordneter gewesen. Was ist die wichtigste Erfahrung?

Steinbrück: Es sind die alten Tugenden von Max Weber, die zählen: Augenmaß, Leidenschaft und Verantwortungsbewusstsein. Verantwortungsbewusstsein nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man unterlässt. Ich hab manchmal den Eindruck, dass das unter die Räder gerät.

Konkret?

Steinbrück: Die Politik scheut sich inzwischen, zu entscheiden und damit auch Konflikte einzugehen. Zu viele Zukunftsfragen werden vertagt, wo ich den Eindruck habe, dass es Wegweisungen geben müsste.

Beispiel?

Steinbrück: Bei der Altersversorgung. Bei der Frage, welche Auswirkung die Digitalisierung auf Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen und die Arbeitswelt hat. In der Bildungspolitik, wo der Föderalismus keineswegs nur Freude bereitet. In der Europapolitik. Die Politik müsste bei all diesen Themen den Mut und Willen haben zu gestalten, auch gegen Widerstände und Empörungen.

Was muss die Wegweisung bei der Alterssicherung sein?

Steinbrück: Ich hadere mit meiner Partei, wenn sie versucht, dieses Thema auf die Frage zu reduzieren: Wie erhöhe ich das Rentenniveau? Denn das müsste die junge Generation bezahlen. Die SPD verliert unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit aus dem Auge, dass es auch eine Generationsgerechtigkeit geben muss. Die Erhöhung der Beitragssätze oder die Erhöhung des Bundeszuschusses zahlen eines Tages meine Kinder und meine Enkel.

Das greift zu kurz…

Steinbrück: Außen vor bleibt jedenfalls, dass die Stabilisierung des Rentenniveaus durch Maßnahmen außerhalb der Rentenversicherung geschehen muss: durch neue Jobs, durch eine angemessene Bezahlung, durch eine höhere Erwerbstätigkeit von Frauen und auch durch eine Erhöhung oder generelle Flexibilisierung des Renteneintrittsalters. Das kommt mir zu kurz dabei. Man fixiert sich auf das Naheliegende, weil man glaubt, dadurch Tagespunkte sammeln zu können.

Verstehen Sie den breiten Widerstand in Ihrer Partei gegen die geplanten Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada, gegen TTIP und Ceta?

Steinbrück: Nein. Es gibt berechtigte kritische Anfragen an TTIP, das im Übrigen nach meinem Eindruck sein Momentum verloren hat. Aber gerade Kritiker der Globalisierung müssten dafür sein, dass Spielregeln eingezogen werden. Wenn es Europa und die USA nicht machen, wird der asiatisch-pazifische Raum die Regeln setzen – ohne uns. Und: Haben wir angesichts der krisenhaften Entwicklungen um uns herum nicht ein Interesse, die transatlantischen Beziehungen zu verbessern – auch wenn in den USA gerade ein Wahlkampf tobt mit einem Verrückten als Kandidaten?

Und beim Abkommen mit Kanada?

Steinbrück: Bei Ceta muss die SPD wissen, was das für die Position ihres Parteivorsitzenden bedeutet. Die Vorstellung, dass er auf dem Parteikonvent im September eine Niederlage serviert bekommt, weil einige mit unbestimmten Rechtsbegriffen in dem Abkommen hadern, die sich fast überall finden, erschreckt mich. Im Übrigen: Deutschland verdient rund 40 Prozent seiner jährlichen Wirtschaftsleistung über Exporte. Das blenden einige völlig aus.

Kann das seine Kanzlerkandidatur gefährden?

Steinbrück: Wenn er eine solche Niederlage einfährt: Ja. Seine Autorität wäre dann so stark erschüttert, dass er ein Kandidat „mit nem abben Bein“ wäre, wie man in Norddeutschland sagt. Ich weiß, was das heißt.

War der größte Fehler Ihrer Laufbahn die Kanzlerkandidatur im Jahr 2013?

Steinbrück: Die war nicht als solche ein Fehler, obwohl meine Familie das anders sieht. Aber Programm, Partei und Kandidat passten nicht so zusammen, dass wir überzeugend aufgetreten sind. Zweitens: Das Land war in einem guten Zustand. Und drittens gewinnt man keine Wahlen durch eine Leistungsbilanz. Das gilt jetzt für 2017. Die SPD war sehr tüchtig mit Mindestlohn, Frauenquote, Mietpreisbremse. Die SPD gewinnt aber eine Wahl nur, wenn sie eine überzeugende Erzählung anzubieten hat, dass sie dieses Land besser und zukunftsweisender regieren kann.

Die SPD, haben Sie mal gesagt, ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit…

Steinbrück: Ja. Wir haben die Niederlagen von 2009 und 2013 nicht richtig aufgearbeitet. Die Tendenz der SPD zu glauben, Interessen einzelner Gruppen addieren zu können und so zur Mehrheit zu kommen, ist ein Irrtum.

Die SPD, so sagen Sie, müsse wieder „solide und pragmatisch“ handeln….

Steinbrück: Pragmatisch in sittlicher Überzeugung. Das eine ist, Regierungsfähigkeit zu zeigen. Das andere ist, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wohin dieses Land unter den obwaltenden schwierigen Bedingungen innerhalb unseres Landes und um uns herum in den nächsten zehn Jahren geführt werden soll.

Wo fehlt die Orientierung am meisten?

Steinbrück: Eindeutig beim Thema Europa vor dem Hintergrund der Renationalisierungstendenzen.

Wie groß ist nach der britischen Entscheidung die Gefahr, dass die EU auseinanderfällt?

Steinbrück: Ich sage nicht, das könnte nicht am Horizont lauern. Aber ich glaube es nicht. Weil ich nach wie vor auf die Vernunft aller Beteiligten setze. Die wissen, dass diese EU die große historische Leistung nach Jahrhunderten europäischer Selbstzerfleischung ist. Die EU ist nicht nur die Antwort auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, sondern auch auf die Herausforderungen des 21. Angesichts der massiven Verschiebungen und Unwägbarkeiten im globalen Mächtekonzert wird jedes einzelne europäische Land seine nationalen Interessen nur unter dem Dach der EU verfolgen können.

Das klingt zu positiv…

Steinbrück: Nein, ich mache ja keinen Hehl daraus, dass die Situation in der Währungsunion weiterhin auch nicht nur im Blick auf Griechenland fragil ist. Die wirtschaftlichen Disparitäten in der EU sind gefährlich. Deshalb muss jede deutsche Politik auch sehr viel mehr europäische Verantwortung übernehmen. Und das gegen eine Grundtendenz in der Bevölkerung, was schwierig ist.

Frankreich ist, was den Populismus angeht, besonders gefährdet…

Steinbrück: Wir können eine Aufzählung machen und landen nicht nur bei Frau Le Pen in Frankreich. Von Herrn Trump über die Situation in Ungarn, den Kaczynski-Ablegern in Polen, rechtspopulistische bis rechtsradikale Parteien in vielen Ländern bis hin zur Renaissance autokratischer Führungsfiguren um Europa herum, sind viele Träume an einen Siegeszug lupenreiner Demokratien zerstoben.

Was raten Sie der Bundesregierung?

Steinbrück: Es muss neue Initiativen Deutschlands zur Stabilisierung und zum Ausgleich in Europa geben, immer mit Frankreich zusammen und möglichst auch mit Polen trotz der dort herrschenden politischen Verhältnisse. Angesichts der Abwehrbewegung in vielen Ländern muss man sich auf das konzentrieren, was grenzüberschreitend gemacht werden muss und erkennbaren Nutzen für die Bürger bringt. Und das Subsidiaritätsprinzip muss endlich nicht nur in Sonntagsreden vorkommen, sondern auch praktiziert werden. Da fällt mir ein Beispiel ein…

Bitte.

Steinbrück: Gestern sagte mir meine Frau – jetzt wird es halb komisch, halb ernst – dass selbst die Bügel-BHs inzwischen europäisch normiert sind. Wenn das nicht stimmen sollte, sind wir inzwischen aber so weit, dass es stimmen könnte.

Schwieriger Übergang: Hat die Europäische Union im Kampf gegen den Terrorismus Fehler gemacht?

Steinbrück: Sie hat sich mit ihren Sicherheitsbehörden nicht rechtzeitig genug aufgestellt. Es muss sehr viel intensiver zusammengearbeitet werden – bis hin zu einer Institution wie einem europäischen BKA.

Stichwort Flüchtlingspolitik. Da haben Sie Frau Merkel mal „Glaube, Liebe, Hoffnung“ vorgehalten. Trifft die Kritik noch zu?

Steinbrück: Ja. Aus humanitärer Sicht war das, was sie vor einem Jahr gemacht hat, sehr ehrenwert. Aber die Führung bei diesem Thema blieb aus. In den 70er Jahren hörten wir gelegentlich nach der Tagesschau eine Rede des Kanzlers an das deutsche Volk, wie es so schön hieß. Da wurde erklärt, was Sache ist und wo der Kanzler hin will. Frau Merkel hätte für ihre Politik nicht nur vor dem Parlament werben müssen, sondern den Bürgern auch einen Weg zeigen müssen, „wie“ wir das schaffen wollen. Und über Deutschlands Grenzen hinaus signalisieren müssen, dass das ein einmaliger Schritt war. Das hat sie nicht getan.

Welche Sorge macht Ihnen die AfD?

Steinbrück: Die wird in den nächsten Bundestag kommen, da muss man sich nichts vormachen. Ich glaube, auch die FDP: dann haben wir sechs Fraktionen, dann wird die Mehrheitsbildung sehr schwierig. Vielleicht sind außer einer großen Koalition keine Zweierkoalitionen mehr möglich. Und ob ich meiner Partei raten würde, innerhalb von 20 Jahren zum dritten Mal in eine solche Koalition zu gehen, steht auf einem anderen Blatt. Vielleicht ist es für sie besser, in die Opposition zu gehen und sehr grundsätzlich über die Rolle der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert nachzudenken.

Rot-Rot-Grün ist keine Option?

Steinbrück: Wenn die SPD damit antritt, wird sie Prozente verlieren.

Würden Sie heute einem 30-Jährigen raten, in die Politik zu gehen?

Steinbrück: Ja. Auf Zeit. Ich kenne die Vorbehalte gegenüber Parteien und Politikern. Aber wenn das kippt in Verachtung – was wir in Deutschland schon mal hatten –, dann wird es gefährlich.

Bringt es Sie auf die Palme, wenn über einen Stinkefinger mehr diskutiert wird als über ein neues Finanzkonzept?

Steinbrück: Meine Geste im Wahlkampf war ein Fehler. Aber im Fall von Sigmar Gabriel – als Reaktion auf durchgeknallte Rechtsradikale glitt die Debatte ins Absurde. Die Bereitschaft, sich über Nebensächliches zu ereifern, steht in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Problemen.

Haben Sie Ihren Frieden mit den Medien gemacht?

Steinbrück: Ich hab mich mittlerweile, glaube ich, sehr abgewogen zum nervösen Verhältnis zwischen Politik und Medien geäußert. Die Politikverdrossenheit hat inzwischen ein Pendant in der Medienverdrossenheit. Damit meine ich nicht den aus dem Goebbelschen Jargon stammenden Begriff „Lügenpresse“. Sondern die Tendenz zur Banalisierung und Skandalisierung und Personalisierung. Die Leute wollen, dass Medien auswählen, dass sie wichtig von unwichtig unterscheiden, dass sie aufklären. Die Flut sich überschlagender, aber nichtssagender Nachrichten im Wettbewerb um Klicks, Quoten und Auflage führt zu Medienverdrossenheit.

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