CDU-Politiker im Interview Norbert Röttgen über Krisen und die neue Regierung

Bonn · Der Königswinterer CDU-Politiker Norbert Röttgen spricht über die schwierige Regierungsbildung in Deutschland und zunehmende Konflikte in der Welt.

 Norbert Röttgen im GA-Interview

Norbert Röttgen im GA-Interview

Foto: Benjamin Westhoff

Die Bundestagswahl ist jetzt mehr als drei Monate her. Es gibt keine neue Regierung. Der Bundestag hat immer noch keine Ausschüsse gebildet. Wie geht es Ihnen dabei?

Norbert Röttgen: Unsere parlamentarische Demokratie lebt von Mehrheit und Opposition. Dass es beides nicht gibt und wir nicht einmal wissen, ob wir für die nächsten vier Jahre eine belastbare Regierung hinbekommen werden, ist keine Staatskrise, aber eine neue Schwäche.

Auch eine Belastung für Sie als Abgeordneter?

Röttgen: Natürlich. Vor allem bedrückt mich, dass wir einen noch nicht dagewesenen parteipolitischen Gruppenegoismus erlebt haben. Die FDP hat für sich reklamiert, dass die Parteiperspektive wichtiger sei als die Staatsverantwortung. Herr Lindner hat eine große Verantwortung auf sich genommen, für die einzig mögliche gute Regierungslösung nicht zur Verfügung zu stehen.

Aber es ist doch immer noch die große Koalition möglich.

Röttgen: Ja, das müssen wir auch versuchen, ohne dass es wirklich gut ist. Die Schwäche dieser Verbindung zeigt sich schon darin, dass es mit 53 Prozent gar keine große Koalition mehr wäre. Die Gefahr ist groß, dass man am Ende einer dritten großen Koalition mit einer weiteren Stärkung der Ränder nicht einmal mehr eine Koalitionsmehrheit hätte. Das wäre ein sehr hoher Preis für die deutsche Demokratie. Außerdem hat die SPD ja noch immer nicht gesagt, ob sie regieren will. Das Markenzeichen einer großen Koalition wäre jedenfalls nicht die Stabilität.

Sie plädieren für eine Minderheitsregierung. Warum?

Röttgen: Auch sie ist nicht ideal, sie hätte einen großen Vorteil und einen großen Nachteil. Ihr großer Vorteil wäre, dass das politische System in Deutschland durchgelüftet würde. Es gäbe einen neuen politischen Wettbewerb. Die Parteien müssten ihre Ziele definieren, dafür eintreten und Mehrheiten finden. Das wäre eine neue Form von politischem Wettbewerb und politischer Debatte. Das würde uns sehr guttun.

Wie viele denken in Ihrer Partei so wie Sie?

Röttgen: Nicht wenige. Trotz der Minderheitsregierung hat man Gestaltungsmöglichkeiten, man hat Minister und man wird im Gegensatz zur Opposition eher wahrgenommen. Man weiß allerdings nicht, wann es zu Ende geht.

Müsste die Union schon bald eine Alternative zur Kanzlerin aufbauen?

Röttgen: Möglichst sogar zwei oder drei. Eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger zu finden, ist sicher eine Aufgabe, die sich in dieser Wahlperiode stellt.

Gehört Norbert Röttgen zu den zwei oder drei Alternativen?

Röttgen: (lacht) Es war ja klar, dass Sie diese Frage stellen.

Sie sprachen auch von einem großen Nachteil einer Minderheitsregierung.

Röttgen: Es ist natürlich anstrengend und etwas, was wir auf Bundesebene noch nicht hatten, aber das ist beides nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass Deutschland eine große Verantwortung dafür trägt, Europa wieder handlungsfähig zu machen. Putin im Osten, Chaos und Konflikte im Süden und Trump im Weißen Haus – die Gefahrenlagen sind dramatisch. Wir brauchen dringend wieder ein starkes Europa. Hierfür ist Deutschland unerlässlich und hierfür braucht man eigentlich eine Mehrheitsregierung.

Eine Minderheitsregierung wäre ein Novum. Man bräuchte Partner.

Röttgen: In der Außen- und Europapolitik haben wir diesseits der Links- und Rechtspopulisten mit rund 80 Prozent einen bemerkenswert breiten Konsens.

Was heißt das für die künftige deutsche Europapolitik?

Röttgen: Es geht um die Stabilisierung des Euro sowie Fragen von Migration, Sicherheit und Verteidigung in Bezug auf das Nördliche Afrika und den Mittleren Osten. Da muss Europa gemeinsam handeln.

Was die Solidarität in Europa angeht, scheint es nicht weit her zu sein. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat in einem Papier zur Flüchtlingspolitik verbindliche Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen als unwirksames und die EU spaltendes Mittel bezeichnet – und damit heftige Kritik geerntet.

Röttgen: Das Prinzip der Solidarität gebietet zwar eine europäische Flüchtlingsaufnahmepolitik. Aber wir müssen anerkennen, dass die osteuropäischen Staaten gesellschaftlich noch nicht so weit sind und wir mit Druck an dieser Stelle eine der großen Spaltungen in der EU nur weiter vertiefen würden. Deshalb finde ich Tusks Ansatz pragmatisch und richtig.

Was halten Sie von Martin Schulz' Vision der Vereinigten Staaten von Europa?

Röttgen: Dass ein Parteivorsitzender, der um sein politisches Überleben kämpft und offensichtlich keine eigene Botschaft findet, gerade jetzt bei der Uneinigkeit in der EU verkündet, innerhalb von wenigen Jahren die Vereinigten Staaten von Europa erreichen zu wollen, das ist Ausdruck persönlicher Verzweiflung und Ratlosigkeit, aber es hat keinen Bezug zur Wirklichkeit.

Ist denn realistischer, was Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert, also einen eigenen Haushalt und einen Finanzminister für die Eurozone sowie gemeinsame Eingreiftruppen bis 2020, einen EU-Verteidigungshaushalt und eine gemeinsame militärische Doktrin?

Röttgen: Er hat sich einerseits alles zu eigen gemacht, was an Vorschlägen auf dem Tisch liegt, ohne einen eigenen neuen Ansatz vorgelegt zu haben. Dass aber der französische Präsident andererseits sich auch der Integration Europas auf dem Gebiet der Sicherheit und Verteidigung ausdrücklich anschließt, ist vor dem Hintergrund des ausgeprägten französischen Souveränitätsdenkens auf diesen Gebieten äußerst bemerkenswert und ein Angebot, auf das wir eingehen sollten.

Was sind für Sie die wichtigsten Punkte in Europa?

Röttgen: Der Euro ist für die nächste Krise nicht ausreichend gesichert. Die nächste Krise aber wird kommen. Wir wissen nur noch nicht, wann. Als Reaktion auf die äußeren Veränderungen – Russland, Mittlerer Osten und der Bewohner des Weißen Hauses – kommen wir zudem nicht umhin, in Europa mehr für die eigene Sicherheit zu tun.

Was schwebt Ihnen vor?

Röttgen: Die Mitgliedstaaten der EU geben rund das Dreifache des Militärhaushalts von Russland aus. Wir sind aber durch unsere nationalen Strukturen extrem ineffizient und leisten uns die unterschiedlichen Waffensysteme in zehn- bis 15-facher Ausführung. Es ist an der Zeit, aus dem Binnenmarktprojekt Europa ein Außenprojekt zu machen. Die Europäer müssen ihre Rolle in der Welt definieren. Statt vieler ineffizienter nationaler Verteidigungsanstrengungen brauchen wir eine sich schrittweise entwickelnde europäische Verteidigung.

Als Ergänzung oder Konkurrenz zur Nato?

Röttgen: Als Stärkung. Wenn Europa mehr tut, ist das auch ein Beitrag zur Stärkung der Nato.

Sind die USA unter Trump noch ein verlässlicher Partner?

Röttgen: Die America-first-Politik des amerikanischen Präsidenten stellt die bisherigen Grundlagen der amerikanischen Außenpolitik infrage. Aber Trump ist nicht die USA. Den Kern der transatlantischen Allianz machen nach wie vor Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde aus. Darum brauchen wir uns weiterhin in dieser Wertebeziehung, die mehr ist als eine bloße Interessenbeziehung, wie es sie zu vielen anderen Staaten gibt.

Ist es denn vernünftig, die US-Botschaft nach Jerusalem zu verlegen?

Röttgen: Nein. Bei Trump gibt es auch nach einem Jahr – mit der Ausnahme Nordkorea – keine wirkliche Außenpolitik. Alle Entscheidungen sind die Ableitung innenpolitischer Interessen. So ist auch die Jerusalem-Entscheidung zu sehen, für die Trump schon im Vorwege große Spenden erhalten hat. Er gießt Öl ins brennende Feuer und beschädigt die unverzichtbare Rolle der USA in diesem Konflikt, als ehrlicher Makler auftreten zu können. Ähnlich ist die Politik gegenüber Iran.

Wie meinen Sie das?

Röttgen: Der Versuch, den Iran zu isolieren und die arabisch-sunnitische Welt gegen den schiitischen Iran in Stellung zu bringen, hat viel zu tun mit seinen innenpolitischen Interessen. Aber zu glauben, dass man ohne den Iran im Mittleren Osten Stabilität erzeugen kann, ist eine blanke Illusion.

Wie sehen Sie das deutsche Verhältnis zu Russland?

Röttgen: In absehbarer Zeit wird es wohl keinen Fortschritt im Verhältnis mit Russland geben. Putins Politik eines aggressiven Nationalismus hat ihren Grund in den innenpolitischen Machtverhältnissen. Putin hat, glaube ich, erkannt, dass er nicht auf Augenhöhe mit dem Westen kommt, wenn er nach dessen Regeln spielt. Gorbatschow und Jelzin haben ein allgemeines Gefühl von Niedergang und Demütigung hinterlassen. Putin verletzt die internationalen Regeln bewusst – siehe Krim – und hat dadurch das Gefühl eines neuen Nationalstolzes erzeugt. Dieses psychologische Moment ist seine eigentliche Machtquelle.

Sollte man dennoch mit Russland reden?

Röttgen: Natürlich. Zum Beispiel in Bezug auf den Konflikt in Syrien. Militärisch hat Putin dort gemeinsam mit Hisbollah, also dem Iran, Machthaber Assad zum Erfolg verholfen. Ich glaube, dass Russland ein Interesse daran hat, die politischen Früchte des militärischen Erfolges zu ernten. Ob hier eine konstruktive Begegnung mit Russland möglich ist, lohnt sich zu erforschen.

Müsste es nicht eine stärkere Reaktion auf russische Versuche geben, westliche Demokratien zu infiltrieren und zu destabilisieren?

Röttgen: Ja. Solch ein Vorgehen verlangt eine einheitliche und klare Antwort des Westens. Dass ein Kraftwerk außer Kraft gesetzt wird, ist leider nicht mehr Science Fiction.

Glauben Sie, dass Russland auf der Trump-Seite in den US-Wahlkampf eingegriffen hat?

Röttgen: Das hinzukriegen, ist die Aufgabe des Sonderbeauftragten Robert Mueller. Es ist sehr beruhigend und auch großartig zu sehen, dass das amerikanische politische System mit seinen Checks und Balances (Überprüfungen und Ausgleich) funktioniert und selbst den Präsidenten nicht schont.

Sie haben Nordkorea erwähnt. Muss man sich da Sorgen machen?

Röttgen: Leider ja. Die Entschlossenheit von Kim scheint groß zu sein, die Fähigkeit zu erlangen, eine interkontinentale Atomrakete starten zu können. Hierin sieht er eine Lebensversicherung gegenüber den USA.

Wie kann der Konflikt entschärft werden?

Röttgen: Nur gemeinsam von den USA und China. Allerdings haben auch die Chinesen nur begrenzten Einfluss auf Nordkorea. Washington und Peking haben auch nicht die gleichen Interessen. Peking will Pjöngjang nicht zum Kollaps bringen, weil dies Auswirkungen auf das eigene Land hätte oder auch die USA zu viel Macht auf der koreanischen Halbinsel erhalten könnten.

Droht denn womöglich eine militärische Konfrontation?

Röttgen: Meine Gesprächspartner in Washington schließen das nicht mehr aus. Die Fähigkeit Kims, die USA atomar zu bedrohen, „zwingt uns, alles zu durchdenken“, heißt es dort. Das ist ziemlich bedrohlich.

Wie blicken Sie auf das neue Jahr?

Röttgen: Die Krisen um uns herum haben sich 2017 weiter zugespitzt und ich glaube, dass die Krisendynamik noch nicht gebrochen ist. Dennoch: Mein Zutrauen in unsere europäische Lern- und Anpassungsfähigkeit ist ungebrochen. Wir sind in der Lage, aus Krisen zu lernen.

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