Lage in der Türkei „Die Alternativen sind ungemütlich“

Bonn · Lange war das Land am Bosporus Vorbild für den Nahen Osten. Viele alte Gewissheiten sind nun fraglich. Doch Westeuropa kann es sich nicht leisten, Erdogan fallen zu lassen.

Für westliche Kritiker scheint die Türkei endgültig auf dem Durchmarsch zur Diktatur. Wie akkurat ist dieser Blickwinkel?

Kinan Jaeger: Mit dem Begriff „Diktatur“ wäre ich vorsichtig. Denn Recep Tayyip Erdogans harscher Kurs findet innerhalb der Türkei viel Zustimmung. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung steht hinter dem Präsidenten. Teile waren sogar bereit, gegen die Putschisten auf die Straße zu gehen und ihr Leben zu riskieren. Wer im Nahen Osten einen Militärputsch vorantreibt und dann unterliegt, kann kaum mit der Gnade des Siegers rechnen. Hätten die Putschisten sich durchgesetzt, hätten sie auch gegen Erdogan hart durchgegriffen. Im Nahen Osten gelten kompromisslosere Regeln der Bestrafung als bei uns im Westen. Das mag einen Teil seiner rigorosen Haltung erklären – rechtfertigt aber nichts. Sollte Erdogan nach Ende des Ausnahmezustandes seine autoritäre Alleinherrschaft etablieren wollen, so darf der Westen dies natürlich nicht akzeptieren.

Wie viel Opposition ist in der Türkei noch möglich?

Jaeger: Erdogan nimmt derzeit die gesamte Opposition für den Putsch in Sippenhaft. Er schlägt politisches Kapital aus seiner Opferrolle. Große Teile der Opposition fürchten Repressalien und verharren in Schockstarre.Viele sind zwar gegen Erdogan eingestellt, positionierten sich aber auch gegen einen militärischen Umsturz. Denn was wäre gewesen, wenn die Putschisten jetzt an der Macht wären? Mit welcher politischen Zielsetzung hätten die Generäle dann regiert? Ich würde die Gefahr eines Bürgerkrieges in der Türkei nicht unterschätzen, denn die Bevölkerung ist politisch stark zerrissen. Nicht zuletzt die Kurden sehen in einer destabilisierten Zentralregierung eine Chance, doch noch ihren Staat umsetzen zu können. Und: Erdogan ist zwar nicht beliebt, aber er ist kein Islamist. Die Zeiten von Necmettin Erbakan, der aus der Türkei gern einen Gottesstaat gemacht hätte, sind vielen noch unangenehm in Erinnerung. So paradox es klingt: Erdogan sicherte die Stabilität am Bosporus.

... das sagt man auch über das Assad-Regime in Syrien.

Jaeger: Man muss immer die Frage nach den Alternativen stellen. Und im Nahen Osten sind die Alternativen oft sehr ungemütlich.

Die Türkei war für den Nahen Osten Vorbild – Nato-Mitglied, EU-Anwärter, gute Wirtschaftsprognosen. Jetzt scheint sie für den Westen Teil des Problems. Richtig oder falsch?

Jaeger: Richtig und falsch! Bis 2010 war die Türkei auf Erfolgskurs. Unter Erdogan hat sich die Wirtschaftsleistung verdreifacht. Er hat dem Land Grund gegeben, wieder stolz zu sein. Gleichzeitig ging die Politik der „Null Probleme mit den Nachbarn“ auf – mit Russland, Syrien, Griechenland, teilweise auch mit Iran lief es harmonisch. Der Syrienkrieg hat den türkischen Traum dann ruiniert: Es gab Spannungen mit Moskau und Teheran, die Assad stützen. Doch die Türkei als Land ist nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung.

Warum? Wie sollte Deutschland sich zur Türkei positionieren?

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