US-Schriftsteller Jonathan Franzen auf Lesereise

Hamburg · "Kein Telefonat war komplett, bevor sie einander nicht unglücklich gemacht hatten", lautet einer der ersten Sätze in Jonathan Franzens kürzlich erschienenem Roman "Unschuld".

 Leichter Ton und schwere Themen - Jonathan Franzen in Hamburg. Foto: Axel Heimken

Leichter Ton und schwere Themen - Jonathan Franzen in Hamburg. Foto: Axel Heimken

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Auch das 830 Seiten starke Werk des US-Schriftstellers ("Die Korrekturen") thematisiert wieder jede Menge menschlicher, gesellschaftlicher und politischer Unzulänglichkeiten, darunter gestörte Familien, die DDR, die Stasi und das Internet. Dennoch sagt Franzen am Montagabend im ausverkauften Hamburger Thalia Theater zum Start seiner Lesereise durch Deutschland: "Das ist mein erstes zornfreies Buch."

Dem Werk (Rowohlt-Verlag) hat der 56-Jährige denn auch das den Teufel charakterisierende "Faust"-Zitat "die stets das Böse will und stets das Gute schafft" vorangestellt. Im Gespräch mit Publizistin Felicitas von Lovenberg ("Frankfurter Allgemeine Zeitung") bekennt der studierte Germanist jedoch: "Im Privatleben bin ich immer noch zornig - manchmal rasend. Weil so viel Dummheit und Ungerechtigkeit in der Welt sind."

Bei seinem Auftritt in der Hansestadt wirkt Franzen alles andere als rasend - eher jungenhaft mit grauem Strubbelhaar, amerikanisch-locker in Jeans und Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln sowie jede Gelegenheit zu einem Scherz nutzend. Obwohl er Deutsch - mit leichtem Akzent - fast perfekt beherrscht, sagt er zu Beginn, seit zwei Jahren kein Wort Deutsch mehr gesprochen zu haben - und ruft breit grinsend ins Publikum: "Sie sind sozusagen meine experimentellen Kaninchen."

Sogar der Titel seines Romans, der im Original wie dessen Heldin "Purity" (Reinheit) heißt, geht aus Franzens Verbundenheit mit deutschsprachiger Kultur hervor. Er bezieht sich auf den österreichischen Kulturkritiker Karl Kraus (1874-1936), dem er den Vorgängerband "Das Kraus-Projekt" (2014) gewidmet hat.

Kraus verstand sich als Wächter der Reinheit deutscher Sprache. Sein eigener Verlag habe gute Argumente gegen diesen - historisch befleckten - Begriff gefunden, sagt Franzen, der in den 1980er Jahren an der Freien Universität Berlin studiert hat. Dabei geriet ihm "reiner" radikaler Idealismus zum wichtigen Zug fast aller seiner Figuren in "Unschuld" - bis auf ausgerechnet Purity.

Eine andere Hauptfigur ist Andreas Wolf, in Bolivien lebender, hochintelligenter Sohn eines DDR-Funktionärs und heutiger Internet-Whistleblower. "Irgendwie meine Lieblingsfigur. Er ist ein bisschen geisteskrank und hat eine wirklich schreckliche Mutter", sagt Franzen, "und er darf Sachen tun, die ich nicht darf - es macht immer Spaß, so ein zweites Ich im Roman zu haben."

Im Buch zeichnet Franzen Parallelen zwischen der untergegangenen DDR und der digitalen Welt. So reflektiert Wolf, "das sichere Gefühl der Zugehörigkeit wider alle Realitäten" sei etwas, was die jeweiligen "Apparatschiks" auszeichne. Beide Typologien stellten sich fälschlicherweise als "Feind der Elite und Freund der Massen" dar. In Hamburg sagt Franzen, nicht gegen das Internet zu sein, aber skeptisch gegenüber dessen Verheißungen: "Es ist die Pflicht von Autoren, da skeptisch zu sein."

Sich selbst sieht der plauderfreudige Amerikaner keinesfalls als eifernden Missionar in eigener Sache: "Ich zeige nichts, ich forsche." Gegen Ende des Abends bricht er dann aber noch eine Lanze für den Wert von Büchern in der IT- und TV-Ära. Zwar sei das Fernsehen vor allem dank einiger herausragender Serien insgesamt besser geworden und ersetze damit den Gesellschaftsroman früherer Zeiten, sagt Franzen. Doch "Innerlichkeit, Psychologie und die unmittelbare Verbindung zwischen dem Geist des Schriftstellers und dem Geist des Lesers" - das gebe es eben nur dank der Literatur.

Jonathan Franzen liest noch in Göttingen (9.10.), Berlin (10.10.), Köln (11.10.), München (12.10), Frankfurt/Main (15.10.) und Potsdam (17.10.).

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