Schleier-Debatte in Europa Die Freiheit unter dem Tschador

In Frankreich ist die Vollverschleierung mit Nikab oder Burka seit drei Jahren verboten, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jetzt noch einmal bekräftigt hat. In Deutschland wird nicht nur in Bonn weiter über das Thema diskutiert.

Sie ist schlank, wirkt sportlich, ihre Stimme klingt klar und sympathisch, ihr Deutsch ist akzentfrei. Engagiert gestikuliert die junge Frau mit ihren Armen. Die stecken bis zum Ellenbogen in eleganten seidenen Handschuhen.

Lebhaft bewegen sich ihre grünen Augen. Sie sind das Einzige, das die 24-jährige Bad Godesbergerin ihrem Gegenüber preisgibt. Jasmin Mohammad, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, trägt den Nikab, einen Gesichtsschleier.

Gekauft hat ihn die Konvertitin, die bis zu ihrer Eheschließung mit einem Nordafrikaner 20 Jahre lang ein "normales" deutsches Teenagerleben in Duisburg führte, in Bad Godesberg. "Islamische Kleidung für die Frau" offeriert ein kürzlich eröffnetes Geschäft am Altstadtcenter.

Das Warenangebot ist groß und reicht vom modischen Hidschab (Kopftuch) und dem Burkini fürs Schwimmbad über unterschiedlichste Varianten des mantelartigen Abayas bis hin zum Tschador - dem schwarzen Gewand, das zum Nikab getragen wird und den Rest des Körpers verhüllt.

Tschador und Niqab, in Bad Godesberg sind sie längst zu gewohnten Anblicken geworden. Seit geraumer Zeit ist die zunehmende Zahl vollverschleierter Frauen im Straßenbild ein Dauerthema. Mancher empfindet die Kleidung wie die teilweise ausschließlich arabischen Schriftzeichen an Geschäften als Zeichen von Internationalität; andere sehen sie als Menetekel, mindestens aber als Provokation an.

Wie weit darf eine Anpassung verlangt werden?

Und so ist das Thema inzwischen in Diskussionsveranstaltungen, in Leserbriefspalten und zuletzt auch im Kommunalwahlkampf angekommen. Im Kern geht es um die Frage: Wie weit darf man von Einwanderern und Gästen eine Anpassung verlangen?

Im ehemaligen Diplomatenstadtteil Bad Godesberg bleibt die Debatte bislang distinguiert, die meisten Stellungnahmen sind von betont zurückhaltender Distanz und vorsichtiger Wortwahl geprägt. Namentlich genannt werden möchte in diesem Kontext kaum ein Bürger.

Die einen bekunden Angst vor möglichen Repressalien, andere scheuen sich, ins selbe Horn zu blasen wie rechte Parteien, für die der Schleier plakatives Symbol für Auswüchse der islamischen Parallelgesellschaft ist.

Die neue Wählerinitiative "Die Godesberger" wies im Wahlkampf zwar jede Nähe zu extremen Parteien von sich, setzte gleichwohl pointiert auf das Thema Islamisierung - und erreichte bei der Wahl zum Bezirksparlament aus dem Stand 5,7 Prozent.

"Ich verstehe die Verunsicherung und Ablehnung einiger Bürger sehr gut", sagt Simone Stein-Lücke (CDU), seit Juni Bezirksbürgermeisterin von Bad Godesberg. "Mimik", erklärt sie, "ist eine gelernte Orientierungsgröße in unserer westlichen Gesellschaft und schafft Vertrauen. Wenn sie wegfällt, vermissen wir einen wesentlichen Bezugsrahmen im Umgang miteinander, und das irritiert die Menschen."

Ungeachtet dessen stören sich einige Bürger an den schwarzumhüllten Frauen ausdrücklich nicht: Manche sehen sie als willkommenes Kontinuum in der Weltläufigkeit des seit sechs Jahrzehnten von ausländischen und zuweilen exotisch anmutenden Gästen geprägten Stadtbezirks, andere nehmen sie schulterzuckend zur Kenntnis - als folgerichtige Konsequenz der real existierenden multikulturellen Gesellschaft.

Kaum zu klären ist überdies, wer hier eigentlich Einwohner und wer Medizintourist ist - und während seines Behandlungsaufenthalts den Einzelhandel oft vor Wechselgeldprobleme stellt. Denn wer im gemieteten (oder eingeflogenen) Porsche Cayenne vorfährt, reist gern mit leichtem Portemonnaie. "Dass die Leute 200- oder gar 500-Euro-Scheine zücken, ist keine Seltenheit", sagt eine Schuhverkäuferin.

Stein-Lücke hat zum Thema Vollverschleierung eine dezidierte Meinung: "Mit einer Vollverschleierung sperrt man Frauen systematisch weg und hält sie fern von der Teilhabe am öffentlichen Leben: Das widerspricht unserem Werteverständnis. Ich möchte, dass sich alle Gruppen in die Gesellschaft einbringen. Eine Burka hingegen trägt vor allem zur Fragmentierung bei."

Die Bürgermeisterin erwartet von den dauerhaft in Bonn und Bad Godesberg lebenden Menschen erkennbare Integrationsbemühungen. "Dazu gehört auch das Ablegen der Burka und das Erlernen unserer Sprache und unserer Gepflogenheiten. Hier müssen wir unsere immigrierten Mitbürger entsprechend fordern und fördern."

Ähnlich sieht es die Integrationsbeauftragte der Stadt Bonn, Coletta Manemann: Zwar respektiere sie es, "dass für einen bislang sehr überschaubaren Teil der muslimischen Frauen der Gesichtsschleier zu ihrem Glauben gehört". Doch sei sie "der festen Überzeugung, dass Kommunikation und Miteinander in unserer Gesellschaft mit dem Sehen und Erkennen eines Gesichtes zu tun haben".

Es drohen hohe Bußgelder

Manemann: "Das Gesicht offen zu zeigen, hat in Deutschland nicht nur in politischen Zusammenhängen eine große Bedeutung und hat diese plurale Gesellschaft immer geprägt. Jemanden nicht zu erkennen, seine Augen und sein Gesicht nicht erfassen zu können, löst daher Verunsicherung und manchmal auch Ablehnung aus. Ich meine: Wer auf Dauer in dieser Gesellschaft leben und partizipieren möchte, muss darüber aufgeklärt und auf die Schwierigkeiten eindringlich hingewiesen werden."

Die Zunahme orientalischen Gepräges auf deutschen Straßen ist beileibe kein auf Bonn beschränktes Phänomen, wie der Blick in andere Städte zeigt. Zuletzt sorgte gar Zell am See im Salzburger Land für Schlagzeilen in der internationalen Presse, weil die örtliche Tourismusbehörde die Touristen aus arabischen Staaten mit einer ungelenk wirkenden Broschüre auf die Sitten und Gebräuche der alpinen Leitkultur einzustimmen versuchte.

Mutet das Bild vollverschleierter Araberinnen vor der Kulisse des Steinernen Meeres noch grotesk-folkloristisch an, so liegen die Dinge in Frankreich oder Belgien ernster. Wenige Autostunden von Bonn entfernt, in Städten wie Lüttich oder Straßburg, droht Frauen wie Jasmin ein Bußgeld in Höhe von 150 Euro. Seit 2011 ist in den beiden Nachbarländern das Tragen eines Vollschleiers in der Öffentlichkeit (nicht in der Moschee) per Gesetz verboten.

Und wenn Männer Frauen zum Schleier drängen, drohen ihnen Gefängnis und bis zu 3000 Euro Geldstrafe. Bislang wurden rund 1000 Bußgelder verhängt. Abmildern lässt sich die Sanktion durch den Besuch von Kursen in Staatsbürgerkunde.

Maßgeblich bei der Gesetzgebung wirkten offiziell nicht religiöse Belange mit, sondern die Frage, ob eine "Vermummung" zulässig sei. "Die Republik blickt aus einem unverhüllten Gesicht", so eine Kampagne, mit der die Regierung die Regelung begleiten ließ.

Dann klagte eine 24-jährige Muslimin mit pakistanischen Wurzeln dagegen. Und blieb ohne Erfolg, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg das Burka-Verbot in Frankreich vor drei Monaten für rechtens erklärte. Das Verbot sei keine Diskriminierung, es verstoße nicht gegen den Schutz des Privatlebens und auch nicht gegen die Religions- und Meinungsfreiheit.

Vielmehr habe der französische Gesetzgeber die Bedingungen des gesellschaftlichen Miteinanders festgelegt, und dies sei ein legitimes Ziel. Hierbei, so die Richter, sei das Mienenspiel unverzichtbar, denn es verrate Gefühle und Absichten der Menschen.

Entsprechend verhindere der Vollschleier im öffentlichen Raum als demonstrative Barriere die zwischenmenschliche Verständigung und wirke für das Zusammenleben in einer offenen demokratischen Gesellschaft zerstörerisch, hieß es sinngemäß in dem Urteil, das sich ausdrücklich auf den Fall in Frankreich bezog - einem laizistischen Staat, in dem Religion strikt als Privatsache gilt.

Erwartungsgemäß provozierte der Straßburger Richterspruch höchst unterschiedliche Reaktionen. Wer sich verhüllt, schade, störe und gefährde niemanden, hieß es etwa. Der Spruch beschneide Individualrechte und die Freiheit verhüllungswilliger Frauen, die sich zudem ja vollkommen friedlich verhielten.

Nicht zuletzt würden die Frauen doch nicht deshalb "freier", weil sie keinen Schleier mehr tragen dürfen. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch warnten zuletzt vor einer "Stigmatisierung" der Burka-Trägerinnen durch ein Verbot.

"Burka-Verbot verletzt Grundrechte der Frauen"

Amnesty International erklärte, ein Burka-Verbot verletze "die Grundrechte von Frauen". Und die taz-Journalistin Bettina Gaus meinte in einem Kommentar: "Rituale und Glaubenssätze, die von Kindheit an erlernt wurden, sind in Mitgliedern von Religionsgemeinschaften meist auch dann tief verankert, wenn Außenstehende sie für absurd oder sogar unmoralisch halten.

Ausschließlich rationale Argumente bewirken in diesem Zusammenhang wenig." Mit anderen Worten: Eine gesellschaftliche "Umerziehung" werde die Justiz in Frankreich nicht bewirken können.

Letztlich, auch dies eine verbreitete Replik auf das Urteil, wirke ein Burka-Verbot kontraproduktiv und integrationshinderlich, weil es die Frauen de facto vollständig von der Öffentlichkeit isoliere: Weil sie die eigenen vier Wände fortan gar nicht mehr verlassen (könnten).

"Na und?", antwortet auf solche Einwürfe die Grande Dame der französischen Gesellschaftswissenschaft, die in den französischen Medien allgegenwärtige Feministin Élisabeth Badinter, und echauffiert sich in einem Interview: "Im Namen dieses idiotischen Arguments werden in Schwimmbädern geschlechtlich getrennte Öffnungszeiten eingerichtet, obwohl das gegen das Gesetz der republikanischen Gleichheit verstößt.

Diese Frauen isolieren sich doch selbst, indem sie den Blickkontakt verweigern." Im Rückgriff auf die republikanischen Werte sagt Badinter über den Vollschleier: "Nicht nur die Freiheit und die Gleichheit werden hier erstickt, sondern auch die Brüderlichkeit, das Mitgefühl, wird hier unmöglich gemacht".

In Deutschland war es "Emma"-Herausgeberin Alice Schwarzer, die 2010 mit einem Buch in dieselbe Kerbe schlug. Sein Titel: "Die große Verschleierung". Seine Botschaft: Der Ganzkörperschleier habe in einer Demokratie nichts zu suchen, denn er raube den Frauen jegliche Individualität und behindere sie aufs schwerste in ihrer Bewegungsfreiheit.

"Burka und Nikab sind zutiefst menschenverachtend", so Schwarzer. Gern verweisen strikte Burka-Gegner auch auf jenen logischen Umkehrschluss: Wer die Burka als Individualrecht verteidigt, der müsste konsequenterweise auch auf das Recht pochen, vollverschleierten Frauen den Anblick nackter Männer zuzumuten.

Indes: Wenigstens im übertragenen Sinne ist dieses "schräge" Szenario längst alltägliche Realität und lässt den Verhaltensmustern freien Lauf: Wenn etwa verhüllte Nikab-Trägerinnen auf Plakatwände, Schaufenster und Kioske der zunehmend sexualisierten Werbe- und Medienwelt oder auf extrovertierte Massenveranstaltungen treffen.

Da wäre er also wieder, der Spaltpilz Toleranz mit seiner ultimativen Frage: Wie liberal dürfen, oder besser, müssen wir sein? Oder, im vorliegenden Kontext gefragt: Gälte es auch als ein "Sieg der Toleranz", wenn statt Conchita Wurst eine Künstlerin mit Burka den European Song Contest gewonnen hätte?

Beim früheren französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy hielte sich die Begeisterung vermutlich in Grenzen. Er bezeichnete den Schleier als "Ganzkörpergefängnis" und "Zeichen der Unterwerfung der Frau" und behauptete somit implizit, dass stets ein tyrannischer Ehemann oder Familienvater dahinter steckt.

Die Bonnerin Jasmin Mohammad jedenfalls beteuert, den Nikab aus freien Stücken zu tragen, und wirkt dabei durchaus glaubwürdig. "Ich entscheide selbst, wann ich einen Schleier tragen will", sagt sie.

Nicht nur in Metropolen wie Berlin und Hamburg, sondern auch in der Salafistenhochburg Bonn mehren sich Berichte, denen zufolge an Schulen größere Jungen darauf "aufpassen", dass sich die Mädchen nach strenggläubigen Vorschriften kleiden. Zuletzt machte in NRW - auch in Bonn - eine selbsternannte "Scharia-Polizei" von sich reden.

"Junge Frauen streben Ehre und Reinheit an"

Auch Frauen, die sich vermeintlich nicht korankonform verhalten, sind die Zielgruppe. Offenkundig ist auch: Wenn sich in der Region radikale Salafisten versammeln, dann tragen die meisten der anwesenden Frauen den Nikab. Im islamistischen Milieu gelten Frauen, die einen betont westlichen Lebensstil pflegen, als "Huren" oder "Schlampen"; ein ähnliches Urteil gilt den Männern, die derlei "zulassen".

Der Nikab gehöre "hunderttausendprozentig zur Religion", sagt denn auch der Salafistenprediger Pierre Vogel in einem seiner Vorträge, die im Internet abrufbar sind. Widerlegt wird er allerdings von der Mehrheit der Islamwissenschaftler: Nirgendwo schreibe der Koran einen Ganzkörperschleier vor, sagen sie. Zumindest die "Gotteskrieger" in Syrien oder Irak sehen es anders: Sie zwingen Frauen dieser Tage den Schleier auf - Alternative ist die tödliche Steinigung.

Zurück nach Europa. Wer sich fragt, was die Frauen hinter den Schleier treibt, findet im Internet Erklärungsversuche. Übersetzt in eine etwas altmodische Sprache sind es Ehre und Reinheit, die junge Frauen offenbar anstreben.

Auch um eine gewisse "Standhaftigkeit" geht es dabei, wie eine Frau in einem Youtube-Video ("Eine Deutsche erzählt, warum sie heute Nikab trägt") erklärt: Man könne den Kuffar, also den Ungläubigen, nicht gefallen, sagt sie und ergänzt: "Die gefallen uns auch nicht, wir passen einfach nicht zueinander." Eine Haltung, die der kürzlich verstorbene Publizist und Islamkenner Peter Scholl-Latour in einer Fernsehrunde so zusammenfasste: "Im Westen verkümmert die Religion, während sie sich im Islam vertieft."

Der Alltag ist oft problematisch

Etwas anders klingt da die Erfahrung von Coletta Manemann: Ihrer Beobachtung zufolge sind es "oft sehr starke und kluge Frauen, die sich sehr bewusst dazu entschieden haben. Daher rührt mein Respekt. Trotzdem: Die aktuelle Erfahrung in Kitas, Schulen und im öffentlichen Leben zeigt, dass es im Alltag problematisch ist.

Und auch für mich gehört zu einer offenen Gesellschaft, dass ich die Gesichter sehen und erkennen kann - und damit übrigens auch erkennen kann, wie es jemandem geht." Nicht zuletzt nähme sie durchaus wahr, dass sie immer mehr muslimische Frauen kritisch auf den Gesichtsschleier ansprechen und ihre Haltung dazu ausdrücklich begrüßen. "Viele Bonner mit arabischem Hintergrund sind bestens integrierte, oft übrigens auch engagierte Bürgerinnen und Bürger", so Manemann.

Neben Fragen auf der Metaebene ergeben Nikab und Tschador auch ganz alltägliche: Wie sieht es etwa mit der Geschäftsfähigkeit eines verhüllten Menschen aus, dessen Identität folglich nicht erkennbar ist?

Dazu erklärt der Bonner Verfassungsrechtler Udo Di Fabio: "Bei einfachen Geschäften im alltäglichen Rechtsverkehr ist eine Identitätsprüfung nicht nötig. Wenn Sie an der Supermarktkasse stehen und ordnungsgemäß bezahlen, ist ihre Identität ohne Bedeutung", sagt er und gibt ein Gegenbeispiel aus seiner eigenen beruflichen Tätigkeit: "Wenn Sie als Studentin an der Universität an einer Klausur mitschreiben, führt am Zeigen des Gesichts kein Weg vorbei."

Anlass für eine Verbotsdebatte ist dies in Deutschland bislang nicht. Während sich in der Schweiz und in Österreich Bemühungen abzeichnen, dem Gesetzgeber in Frankreich zu folgen, bleiben ähnliche Forderungen hierzulande noch die Ausnahme. Die gesellschaftspolitische Debatte über Frauen wie Jasmin aus Bonn dürfte indes weitergehen.

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