Gewalt gegen Einsatzkräfte Wie die eigene Selbstbestimmung Menschen abstumpft

Bonn · Die Notfallpsychologin Clivia Langer beschäftigt sich mit der Frage, weshalb Menschen Rettungskräfte beschimpfen oder sogar angreifen. Ihrer Meinung nach ist die mediale Darstellung von Gewalt dabei nicht unwichtig. Ein Interview.

 Clivia Langer ist Notfallpsychologin.

Clivia Langer ist Notfallpsychologin.

Foto: Kleinfeldt

Gewalt sei in den Medien viel zu präsent, erklärt die Diplompsychologin Clivia Langer. Das stumpfe Menschen ab. Sie hat eine eigene Praxis in Tübingen. Speziell für Einsatzkräfte bietet sie Seminare zum Thema Stressmanagement in Notfallsituationen an sowie Hilfe nach belastenden Notfallsituationen. Gemeinsam mit dem Institut für Gerichts- und Kriminalpsychologie Tübingen veranstaltet Langer Seminare in Notfallpsychologie und Psychologische Erste Hilfe für Führungskräfte.

Was geht in den Köpfen von Menschen vor, die Rettungskräfte angreifen oder sie beschimpfen?

Clivia Langer: Menschen, die unangemessen aggressiv reagieren, fühlen sich eigentlich überfordert. Sie haben keine andere Möglichkeit, ihren Unmut oder ihre Schwierigkeiten zum Ausdruck zu bringen.

Was für eine Überforderung?

Langer: Die Menschen müssen heute mit so vielen Unsicherheitsfaktoren leben: Das fängt mit den Anforderungen in der Arbeit an und reicht bis zu den Aufgaben und Erwartungen in der Familie, in der Beziehung. Als Reaktion darauf legen sich Menschen Dinge zurecht. Sie denken: 'So müsste es sein, so komme ich damit zurecht, so kann es gehen.' Und wenn dann etwas passiert, womit sie nicht gerechnet haben, was nicht in ihrem Plan vorgesehen ist, wissen sie nicht, was sie machen sollen, und reagieren unangemessen aggressiv.

Aber das muss doch noch etwas Anderes hinzukommen!

Langer: Wir erleben heute bei vielen Menschen einen Verlust an Empathie. Immer weniger Leute sind in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen und zu empfinden, wie es anderen in ihrer Situation wohl gehen möge. Das spiegelt sich auch im Phänomen der Gaffer bei Unfällen oder bei Übergriffen auf Rettungsdienste, die anderen Menschen helfen wollen. Da ist plötzlich ein Notarztwagen, der die Straße versperrt. Subjektiv wird die Situation dann als Verhinderung oder Angriff auf eigene Pläne bewertet, und dann reagieren Menschen möglicherweise aggressiv.

Und die rasten dann aus?

Langer: Hinzu kommt: In unserer Gesellschaft ist Selbstbestimmung ein hohes Gut. Es gibt immer weniger oder keinen Respekt mehr vor Personen. Das erleben nicht nur Rettungsdienstleute, das gilt für alle, die früher mit hohem Respekt geachtet und behandelt wurden. Es wird schon im Kindergarten und in der Schule gefördert, dass heranwachsende Menschen selbst Entscheidungen treffen und immer wissen, was sie möchten und wann und wie sie es möchten. Zu dieser Erziehung und Haltung passt es nicht, wenn jemand sagt: 'Wir machen das jetzt so und ich habe dir das zu sagen.' Gleichzeitig sind viele Menschen abgestumpft, und wenn sich das kombiniert mit fehlender Empathie und mangelndem Respekt, dann landen wir beim Thema Verrohung.

Erleben Einsatzkräfte bei der Arbeit heute mehr Gewalt als früher?

Langer: Die Studienlage gibt das nicht wirklich her. Von der Uni in Bochum gibt es eine kriminologische Untersuchung, die Forschungsergebnisse 2011 und 2017 verglichen hat, und es ist kein immenser Zuwachs zu erkennen. Die Vorfälle kommen ungefähr gleich häufig vor, und es ist so, dass die Täter meistens Männer im jungen Erwachsenenalter sind.

Was ist zu tun?

Langer: Hilfreich wäre, zu ergründen: Warum sind immer weniger Leute willens, sich auf empathische Weise auf andere Menschen einzulassen und ihr Verhalten danach auszurichten? Empathie erreicht man nicht durch Skandalisierung, durch Betonen der Gewalt, wie es die Medien machen. Würde man stattdessen veröffentlichen, wie es einem Kind, das ganz dringend eine Behandlung braucht, ergangen wäre, wenn die Rettungssanitäter nicht alles getan hätten, den Rettungswagen nicht quer gestellt hätten. Das würde die Menschen eher berühren.

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