Alkoholproblem in Russland Tödlicher Hang zum billigen Fusel

Moskau · Zahllose Russen trinken gegen das andauernde Krisendasein an. Das hat immer wieder fatale Folgen, da die Menschen bei der Wahl ihres Rauschmittels nicht zimperlich sind.

 Stets begehrt: Wodka ist aus dem Leben der meisten Russen kaum wegzudenken.

Stets begehrt: Wodka ist aus dem Leben der meisten Russen kaum wegzudenken.

Foto: dpa

Auf der Straße wird Parfüm verkauft. Eine lange Warteschlange bildet sich. Als ein Mann 20 Flakons verlangt, gibt es Proteste. Aber ein anderer Kunde ruft: „Lasst ihn doch! Vielleicht will er ja eine Hochzeit feiern.“ Den Witz erzählten sich die Russen schon unter Michail Gorbatschow. Er bleibt aktuell, ebenso das Übel, das dahintersteckt. Russland, vor allem Provinzrussland, leidet weiter unter dem Drang, sich zu betrinken. Und unter einem Mangel an erschwinglichen und genießbaren Alkoholika. Das führt zum Konsum aller möglichen Wodkaverschnitte, aber auch hochprozentiger Arzneimittel oder Shampoos. Selbst Nagellackentferner werden in Einzelfällen nicht verschmäht. Die Folgen sind oft tödlich.

Im ostsibirischen Irkutsk starben seit Mitte Dezember insgesamt 78 Menschen an Alkoholvergiftungen. Die jüngsten zwei Todesopfer meldete die Nachrichtenagentur Tass am Montag. Ein weiterer Patient schwebt in Lebensgefahr, etliche haben ihr Augenlicht verloren. Nach Angaben der Ärzte hatten die mehr als 100 Erkrankten den Badezusatz „Bojaryschnik“ (Weißdorn) getrunken. Er war mit giftigem Methanol versetzt.

Die 100-Gramm-Plastikfläschchen gibt es für umgerechnet knapp 50 Cent auch an Automaten, die stark an Getränkeautomaten erinnern. Laut Werbung enthält „Bojaryschnik“ außer 75 Volumenprozent reinem Alkohol Weißdornextrakt, medizinisches Glyzerin und Wasser. Konsumenten gilt er als preiswerte Alternative zum Wodka, dessen staatlich festgelegter Mindestpreis umgerechnet mindestens drei Euro pro Halbliterflasche beträgt. „Die Mixtur ist bei uns vor drei Jahren aufgetaucht, als der Wodka zum ersten Mal teurer wurde“, erklärte ein Einwohner des Irkutsker Arbeiterbezirks Nowo-Lenino dem Nachrichtenportal lenta.ru.

„Ist doch ein normales Getränk, besser als mancher Wodka, der 300 Rubel (knapp sechs Euro) kostet. Glauben Sie mir, ich habe schon alles Mögliche probiert.“ Jetzt hätten Bekannte eine kosmetische Flüssigkeit mit Apfelsinengeschmack aufgetrieben, die nicht schlechter sei als der „Bojaryschnik“. In Russland herrscht weiter Wirtschaftskrise. 41 Prozent der Familien klagen, es mangele ihnen an Geld, um Lebensmittel einzukaufen. Für viele ein Grund zu trinken, und das möglichst billig.

Nach Angaben der Aufsichtsbehörde sterben jährlich eine halbe Million Russen an den Folgen übermäßigen Schnapskonsums. Alkoholismus sei die Todesursache bei 30 Prozent der russischen Männer und 15 Prozent der Frauen. Zehntausende ruinieren ihre Lebern mit jahrzehntelangem Wodkatrinken, einzelne sterben aber auch, weil sie ihren Kater mit Frostschutzmitteln bekämpfen wollten.

Die Polizei in Irkutsk hat inzwischen zwölf Personen festgenommen. Sie werden verdächtigt, in einer Garage den „Bojaryschnik“ mit giftigem Methanolalkohol gepanscht zu haben. Es gilt als offenes Geheimnis, dass Schwarzbetriebe in den Garagen und Lagerkellern russischer Städte nicht nur billige Textilien oder Teigtaschen herstellen, sondern auch synthetische Drogen und getürkten Whiskey. Zurzeit werden in Geschäften von Wladiwostok bis Wolgograd Tausende Liter „Bojaryschnik“ beschlagnahmt. Allerdings sind sie zum Großteil nicht gepanscht.

Nach Angaben des Lokalsenders BajkalTeleinform warnt die Polizei die Bevölkerung vor dem Kauf der Wodkamarken „Zarenjagd“, „Weiße Birke“ und „Finnengold“. Offenbar habe jemand diesmal eine Ladung technischen Alkohols besonders übler Qualität in die Irkutsker Garagen geliefert.

Vor allem Landrussen schaffen sich Destilliergeräte an, um ihren eigenen 40- bis 70-prozentigen Alkohol zu brennen. „Letztes Jahr hat im Nachbardorf jemand eine Flasche Wodka im Laden gekauft. Am nächsten Tag war er tot“, erzählt Oleg Nikolajew aus Srednije Kibeschi an der mittleren Wolga. „Ich brenne lieber selbst. Da weiß ich wenigstens, was ich trinke.“

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