30 Jahre nach der Atomkatastrophe Neue Schutzhülle erreicht Atomruine Tschernobyl

Prypjat · Tausende Tonnen Stahl gegen lebensbedrohliche Strahlung: Ein neuer Sarkophag soll 100 Jahre vor den Folgen der Atomkatastrophe in Tschernobyl schützen. 30 Jahre nach dem GAU steht nun die gefährliche Sanierung bevor.

Wie ein gigantischer Käfer aus Stahl kriecht die neue Schutzhülle auf die düstere Atomruine Tschernobyl in der Ukraine zu. Ein robustes System aus Spezialschienen und Hydraulik schiebt das größte bewegliche Bauwerk der Welt beständig auf den 1986 havarierten Reaktor zu. An diesem Dienstag hat die mehr als 36 000 Tonnen schwere Konstruktion die ukrainische Atomruine überdeckt. Bei Schneetreiben und bedecktem Himmel bereiteten Arbeiter und Experten die Präsentation des Stahlmantels vor.

Zu der Zeremonie wurden am Dienstag neben anderen der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und der Ex-Direktor der Internationalen Atomenergie-Organisation, Hans Blix, erwartet. Ein System aus Spezialschienen und Hydraulik hatte die Hülle in den vergangenen 14 Tagen auf die Anlage geschoben.

„Das ist der Anfang vom Ende des 30-jährigen Kampfes gegen die Folgen der Katastrophe“, sagt der ukrainische Umweltminister Ostap Semerak. 100 Jahre lang soll die neue Hülle den Austritt radioaktiver Strahlen verhindern sowie vor Umwelteinflüssen wie Nässe schützen. Das Stahlgerüst darf nicht zu früh rosten. Die Hülle ergänzt einen Betonsarkophag, der von der Sowjetunion nach der fatalen Kernschmelze am 26. April 1986 eilig errichtet worden war und mittlerweile brüchig ist. Doch der gefährlichere Teil der Sanierung steht erst bevor.

In einem ersten Schritt muss unter der mächtigen Stahlglocke der bisherige Sarkophag abgebaut werden. „Für die Aufräumarbeiten sind im Inneren der neuen Hülle unter anderem zwei fast 100 Meter lange Brückenkransysteme montiert. Die Kräne rollen auf Schienen am Boden sowie auf parallel verlaufenden Schienen an der Decke“, schildern die Organisatoren den Plan. Der entstehende Müll soll endgelagert werden.

Problem ist die Finanzierung

Technisch gilt alles als weitgehend ausgetüftelt. Das Problem ist die Finanzierung. Dem Vertrag zufolge muss die Ex-Sowjetrepublik Ukraine diese Arbeiten bezahlen. Solche Projekte übersteigen aber die Kräfte des zweitgrößten Flächenstaats Europas, den eine Wirtschaftskrise sowie ein Krieg im Osten und die russische Annexion der Schwarzmeer-Halbinsel Krim auszehren. Bereits der Bau der rund zwei Milliarden Euro teuren Hülle war nur durch 40 Geberländer möglich.

Doch selbst wenn der Abbruch des 1986 erbauten Sarkophags gelingt: Experten vermuten in dem explodierten Reaktor noch etwa 200 Tonnen Uran, deren Radioaktivität für Menschen tödlich ist. „Für die Räumung gibt es bisher weder Geld, noch ein Konzept. Die endgültige Sanierung der strahlenden Ruine beginnt also vermutlich erst irgendwann in eher ferner Zukunft“, schrieb die russische Zeitung „Kommersant“ unlängst.

Der deutsche Physiker Sebastian Pflugbeil bezweifelt, dass die neue Hülle unabdingbar war. „Aus meiner Sicht wäre es notwendiger gewesen, den gesundheitlich und sozial geschädigten Menschen in der Umgebung von Tschernobyl zu helfen“, sagt der Präsident der atomkritischen Gesellschaft für Strahlenschutz. Pflugbeil hat das Innere der Ruine selbst in Augenschein genommen und keine großen Restmenge Kernspaltmaterial entdeckt. „Dass ohne stichhaltige Begründung eine Riesensumme für den Sarkophag beschafft wird, frustriert mich“, sagt Pflugbeil, der 1990 als Minister ohne Geschäftsbereich in der letzten von der langjährigen Staatspartei SED geführten DDR-Regierung saß.

Stahlbogen mit zehn Metern pro Stunde bewegt

Vor rund zwei Wochen hatten Arbeiter den Stahlbogen von 110 Metern Höhe, 165 Metern Länge und 257 Metern Breite in Tschernobyl in Bewegung gesetzt. Mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Metern pro Stunde näherte sich die neue Hülle seitdem dem explodierten Block 4. Unter dem riesigen Mantel in Bogenform hätte die Pariser Kathedrale Notre Dame Platz. Mit ihrer Spezialtechnik hatte die beauftragte Firma aus den Niederlanden bereits im Jahr 2000 geholfen, das verunglückte russische Atom-U-Boot Kursk aus der Barentssee zu heben.

Auch beim U-Boot-Unglück informierten die Behörden wie einst in Tschernobyl zunächst zögerlich. In dem Atomkraftwerk war am 26. April 1986 um 1.23 Uhr Ortszeit ein Test außer Kontrolle geraten. Der Super-GAU, der größte anzunehmende Unfall, trat ein. Zehntausende mussten die Region nach der Tragödie am Rande Europas verlassen. Die Detonation wirbelte radioaktive Teilchen auf, die abgeschwächte Wolke breitete sich von der Ukraine über Westeuropa aus. Experten gehen von Zehntausenden Todesfällen aufgrund des verheerenden Unfalls aus.

In Deutschland und anderen Staaten sorgte derTschernobyl-Schock vor 30 Jahren für Angst und Unsicherheit. Die junge Ökobewegung erhielt Auftrieb. Wegen Tschernobyl legte Italien 1987 seine AKWs still, Polen brach 1989 den Einstieg ab. Andere Länder wie die USA halten an der Kernkraft fest. Auch Japan steigt nicht aus, trotz Fukushima.

Die Kernschmelze im Kraftwerk Fukushima war 2011 ähnlich katastrophal wie in Tschernobyl. Die beiden Unfälle veränderten die Diskussion über die Atomkraft. Deutschland beschloss 2011 den Ausstieg. Auch die Schweizer entschlossen sich damals, auf Kernkraft zu verzichten. Bei einer Volksabstimmung votierten sie am Sonntag jedoch mehrheitlich gegen eine rasche Umsetzung dieses Plans.

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