Artensterben im Mittelmeer Mysteriöser Parasit tötet Riesenmuscheln

Anawissos · Edle Steckmuscheln kommen nur im Mittelmeer vor und lieferten die Fasern für eines der wertvollsten Materialien auf der Welt. Nun macht ein Parasit ihnen den Garaus. Und die Wissenschaft ist bisher ratlos.

Artensterben im Mittelmeer: Mysteriöser Parasit tötet Riesenmuscheln
Foto: dpa

Ein mysteriöser Parasit macht einer Riesenspezies von Muscheln, die nur im Mittelmeer vorkommt, den Garaus. Dies mit einem so großen Tempo, dass Wissenschaftler das Aussterben dieser Weichtiere befürchten, sollten sie nicht bald ein Gegenmittel finden.

Es geht um die Edle Steckmuschel „Pinnanobilis“, die seit 1000 Jahren untrennbar mit der menschlichen Zivilisation verbunden ist. Sie kann mehr als einen Meter lang werden und hat Nahrung sowie eines der seltensten und wertvollsten Materialien auf der Welt geliefert: Muschelseide, gesponnen aus den Fasern, mit denen sie sich am Meeresboden anhaftet.

Weil Raubbau, Verschmutzung und Zerstörung ihres natürlichen Habitats ihren Bestand gefährlich dezimiert haben, steht sie in der Europäischen Union seit Jahrzehnten unter Artenschutz. Aber das damit verbundene Fischereiverbot wird oft nur lasch durchgesetzt, hat die Ernte nicht gänzlich gestoppt, zumal die Muscheln auch wegen ihrer Schalen begehrt sind: Sie werden für dekorative Zwecke benutzt.

Parasit breitet sich aus

So sterben denn diese Weichtiere, deren Lebensspanne mehrere Jahrzehnte beträgt und die erst nach Jahren ihr reproduktives Alter erreichen, schon seit längerem in einem größeren Umfang als sie ersetzt werden konnten. Und nun ist da auch noch dieser mikroskopisch kleine Parasit, der sich zusehends ausbreitet. Gegen Ende 2016 war er erstmals im westlichen Mittelmeer aufgetaucht, aber erst dieses Jahr wurde er als eine neue Spezies identifiziert.

Auf welche Weise er genau seine Opfer tötet, ist nicht ganz klar. Forscher haben aber herausgefunden, dass er ihr Verdauungssystem angreift. Zudem kann das infizierte Tier seine Schalen nicht schließen und sich daher nicht gegen Raubfische schützen. Einmal infiziert, ist sein Tod fast sicher.

Zunächst wurde in weniger als einem Jahr der Steckmuschelbestand vor der spanischen Küste ausgelöscht, wie Maria del Mar Otero von der International Union for Conservation of Nature (Internationale Union zur Bewahrung der Natur) schildert. Bald darauf waren auch Teile der Gewässer vor Frankreich, Malta, Tunesien und Italien betroffen, und unlängst haben Tests bestätigt, dass derselbe Parasit „Haplosporidiumpinnae“ auch für die Vernichtung von Muscheln in Abschnitten vor Griechenland verantwortlich ist.

Massensterben im Mittelmeer

Wissenschaftler sprechen von einem Massensterben, das weit östlich bis nach Zypern und zur Türkei reicht. Und nun müssen sie versuchen, möglichst rasch den Lebenszyklus des Parasiten zu verstehen und herauszufinden, wie sich der Angreifer verbreitet - Grundvoraussetzungen für ein erfolgreiches Rettungsprogramm. Eine Theorie geht dahin, dass er sich durch Phytoplankton ausbreitet, die Nahrungsquelle der Muscheln, aber genau weiß das bislang niemand.

„Wir können uns derzeit über nichts sicher sein“, sagt Pantelis Katharios, ein Spezialist für Meeresbiologie und Biotechnologie an der griechischen Forschungseinrichtung Hellenic Centre for Marine Research (HCMR). „Was wir soweit wissen ist, dass die Pinnas sterben, dass dieser Parasit die Ursache ist, und wir wissen, dass er sich sehr, sehr rapide ausbreitet. Und das wird ein riesiges Problem für das ökologische Gleichgewicht im Mittelmeer werden.“

HCMR-Meeresökologe Jiannis Issaris spricht von einer noch „sehr frischen“ Herausforderung für die wissenschaftliche Gemeinde. Man sei immer noch dabei zu erfassen, wohin sich der Parasit ausgebreitet habe. Einige Gebiete vor Griechenland wiesen noch gesunde Bestände auf, während die Weichtiere in anderen Regionen völlig vernichtet worden seien.

Tests dauern noch an

Die Steckmuscheln in ihrem natürlichen Habitat - sandige Meeresböden oder Wiesen von Seegras - zu schützen, scheine „schwierig bis unmöglich“ zu sein, meint Issaris. Vor allem, wenn man nicht wisse, wie sich der Parasit ausbreite. Einige Tests in Mittelmeer-Gebieten, in denen Massensterben beobachtet wurden, dauern noch an. Aber Experten sind sich praktisch sicher, was sie ergeben werden. Es sei „sehr, sehr, sehr wahrscheinlich“, dass es der gleiche Parasit sei, sagt etwa Otero. „Das ist fast keine Frage.“

Fest steht, dass sich der Parasit seine Opfer ganz gezielt aussucht. Eine kleinere verwandte Muschelart, „Pinnarudis“, die ebenfalls im Mittelmeer lebt, ist beispielsweise nicht betroffen. „Wir wissen nicht, wie er (der Parasit) im Mittelmeer aufgetaucht ist“, sagt Issaris. „Wir wissen lediglich, dass er nur den Tod der Pinnanobilis auslöst.“ In seinem Labor auf Kreta untersucht Experte Katharios mit einem Mikroskop das Gewebe eines infizierten Weichtieres und deutet auf die Schuldigen: kleine, oval geformte Parasiten, die in der Probe verstreut sind.

Rätselraten über tödlichen Organismus

Wissenschaftler rätseln besonders darüber, warum ein Organismus so tödlich für genau die Spezies ist, die er doch selber für sein Überleben benötigt. „Normalerweise haben Parasiten von Natur aus keinen Nutzen davon, ihrem Wirt zu schaden, denn sie sind von ihm abhängig“, erklärt Katharios.

Vielleicht sei das Massensterben der Muscheln schlicht ein natürliches Phänomen, bei dem der Parasit irgendwann zusammen mit dem Wirt aussterbe, mutmaßt der Experte. Oder es könnte in einer anderen Spezies angefangen haben und der Parasit aus irgendeinem Grund auf die Steckmuscheln übergesprungen sein. Möglicherweise sei auch das Immunsystem der Muscheln durch Faktoren wie Verschmutzung, Klimawandel oder Fluktuationen in der Wassertemperatur geschwächt worden.

Fragen über Fragen, die bisher nicht beantwortet werden konnten. Und so räumt denn auch Katharios ein: „Es ist extrem, extrem schwierig, zu diesem Zeitpunkt die Wahrheit zu finden.“

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