Herbert-Grillo-Gesamtschule in Duisburg Kinder an NRW-Schule müssen Deutsch lernen

DUISBURG · Fast alle Schüler an der Herbert-Grillo-Gesamtschule besitzen einen Migrationshintergrund, einen ausländischen Pass oder sind geflüchtet. Über solche Schulen werden Bücher geschrieben und Debatten geführt. Ein Besuch.

 Eine Schülerin mit Kopftuch meldet sich im Unterricht.

Eine Schülerin mit Kopftuch meldet sich im Unterricht.

Foto: Oliver Berg/Archiv

Es ist 8.30 Uhr im Lehrerzimmer der Herbert-Grillo-Gesamtschule in Duisburg-Marxloh, und es geht um das Judentum. Hüzeyfe Tok, Klassenlehrer einer sechsten Klasse, hat Eva Weyl, eine jüdische Zeitzeugin der NS-Diktatur, zu einem Vortrag in die Schule eingeladen. „Vor allem bei Kindern aus muslimischen, arabischen und türkischen Familien gibt es große Wissenslücken“, erzählt Tok. Sie würden Judentum stets mit Zionismus und Israel-Politik verbinden. Dass Judentum ebenso eine Religion ist wie Christentum oder Islam, wüssten viele gar nicht.

Tok ist 31 Jahre alt und trägt Bart. Wie um siche rzugehen, dass er als Lehrer erkannt wird, trägt er ein Ledertasche in Cognac-Braun, mit zwei Gürtel-Schnallen und breitem Schulterriemen – Lehrertasche eben. Mehr als 90 Prozent der Schüler an der Herbert-Grillo-Gesamtschule (HGG) haben Migrationshintergrund, einen ausländischen Pass oder Flüchtlingsstatus. „In meiner 6d kommen die meisten Kinder aus Bulgarien und Rumänien. Die anderen stammen aus Polen und der Türkei – ach ja, und dann sind da noch Alicia und Samantha, zwei Deutsche. Die gibt’s auch.“ Einige seien erst vor zwei oder drei Jahren nach Deutschland gekommen, zum Teil direkt eingeschult worden. „Dass sie Schwierigkeiten haben, ist doch selbstverständlich“, so Tok. „Das liegt aber nicht an dem Verhalten der Schüler, sondern an den Sprachdefiziten.“

Es gehört zum Selbstverständnis der HGG, eine Stadtteilschule zu sein. Irgendwann muss sich diese Schule wohl die Frage gestellt haben, wie sie mit ihrem Stadtteil umgeht. Marxloh hat nicht das beste Image, sondern weckt weit über die Stadtgrenzen hinaus Assoziationen: Problembezirk, No-go-Area, Brennpunkt. Mittendrin steht die Herbert-Grillo-Gesamtschule. „Wir sind auch Teil der Aktion ‚Marxloh macht sauber‘“, sagt Tok. „Dann sehen die Anwohner: Das sind unsere Kinder, die die Straßen sauber halten. So kommen wir über die Erziehung der Kinder auch an die Eltern heran.“

Die erste Stunde an diesem Mittwoch sieht „Soziales Lernen“ vor. In diesem Rahmen tagt der Klassenrat, den die Klassensprecher Sule und Junis führen. „Im Klassenrat sollen die Kinder lernen, wie sie ihre Meinung vertreten, andere Meinungen akzeptieren, Kritik annehmen aber auch Kritik formulieren können“, erklärt Tok. Dann richtet er sich an die Klasse: „So, Leute, ihr kennt die Reihenfolge.“ Erster Tagesordnungspunkt: Jakub liest das Protokoll der vergangenen Sitzung vor. Dann werden die Dienste verteilt. Tok sitzt ganz hi nten, mischt sich nur ein, wenn es zu laut wird und korrigiert das Deutsch der Schüler. Das muss er oft.

Von der Entwicklung mancher Schüler ist Tok begeistert

Nächster Tagesordnungspunkt: Streit. „Es gibt Streit zwischen Hira und Adam“, erzählt Klassensprecherin Sule. Adam meldet sich: „Also Hira dachte, ich hätte sie beleidigt, deswegen hat sie mich beleidigt, und ich hab sie dann zurückbeleidigt – was auch nicht gut war.“ Und jetzt?, fragt Tok. Adam: „Ich würde vorschlagen, wir gehen uns aus dem Weg.“ Empörte Rufe vom Rest der Klasse. Eine Schülerin meldet sich und schlägt vor: „Die sollen sich vertragen, weil wir doch eine Klasse sind.“ Die anderen nicken. Adam und Hira sehen das ein, stehen auf, geben sich die Hand, murmeln „’Tschuldigung“ und setzen sich wieder hin.

Von der Entwicklung mancher Schüler ist Tok begeistert. „Gyursel ist zum Beispiel erst vor zwei Jahren aus Bulgarien hergekommen und ein absoluter Überflieger – der wird mal studieren !“ Bei anderen läuft es schleppender. Ein kleiner, schmächtiger Schüler scheint zum Beispiel gar kein Deutsch zu können. „Er ist immer mal wieder für drei vier Monate weg, weil die Familie dann nach Rumänien geht“, erzählt Tok.

Tok achtet auch auf die Sprache

Im Matheunterricht ist Bruchrechnen Thema. Hüzeyfe Tok schreibt eine Aufgabe mit einem falschen Ergebnis an die Tafel. Sofort empören sich einige Schüler „Häh, das stimmt gar nicht.“ Tok setzt sich zwischen die Schüler und erklärt: „Herr Tok hatte eine Gehirnerschütterung. Er denkt, das sei richtig. Wer will ihm an der Tafel erklären, wie es eigentlich geht?“ Mehrere Hände schnellen hoch, Meryem und Gyursel dürfen an die Tafel. Neben Addieren und Subtrahieren achtet Tok auch auf die Sprache – „der Nenner, nicht das Nenner“. Die Mathestunde ist in Duisburg-Marxloh auch eine Deutschstunde.

Mittendrin platzt ein Schüler in den Unterricht. Er ist völlig aus der Puste, nimmt sich einen der Zettel, die neben der Tür an der Wand hängen, füllt ihn aus und überreicht ihn Herrn Tok. „Wenn ein Schüler zu spät kommt, muss er so einen Zettel ausfüllen, in dem er seine Verspätung erklärt“, erläutert Tok. „Beim dritten Mal werden die Eltern benachrichtigt.“ Er schaut sich den Zettel an: Verschlafen und deswegen drei Stunden zu spät gekommen. Tok schüttelt den Kopf. „Seine Mutter ist alleinerziehend und hat einen neuen Job. Wenn sie Frühschicht hat, muss sie vor ihm aus dem Haus. Und er bekommt es noch nicht hin, selbstständig pünktlich aufzustehen“, erzählt er.

Ohne Beziehung keine Erziehung

Tok hält es mit dem pädagogischen Leitspruch: Ohne Beziehung keine Erziehung. „Wenn sich die Schüler wirklich angesprochen fühlen, ist das wie ein Türöffner“, so Tok. „Das Kind lernt nicht für das Fach, sondern für den Lehrer. Und wir können die Kinder für das Fach begeistern.“ Wenn er Schüler meint, spricht Tok fast immer von Kindern. Wir müssen immer die Lebenswelt der Kinder im Fokus haben“, sagt er. „Wir versuchen ihnen Schlüsselqualifikationen zu vermitteln, damit sie in der Gesellschaft Fuß fassen können.“

Der Schulleiter der HGG, Thomas Zander, ist seit mehr als 15 Jahren an der Schule. Was sich in der Zeit am meisten verändert hat? „Früher waren hier vor allem Kinder aus türkischen Familien. Jetzt schicken türkischstämmige Eltern ihre Kinder oft nicht mehr an unsere Schule, weil sie finden, dass hier zu viele Ausländer sind“, erzählt er und lacht.

Nicht so lustig findet er die immer selben Vorurteile: „Das ganze Gerede um Gewalt, das nervt mich wirklich sehr“, sagt er. „Es geht hier an unserer Schule nicht gewalttätiger zu als an anderen Schulen.“ Mit den immer selben und meist unbegründeten Vorurteilen werde man den Kindern und ihren Eltern nicht gerecht. Er betont: „Wir haben vor allem Probleme mit Armut und mit Sprachdefizi ten.“ Er wolle sich einsetzen „für Leute, die keine guten Startchancen hatten, die aber genauso viel Wert sind wie andere Menschen, genauso viele Gaben und Talente haben“. Und so sieht Zander auch seine Schüler: Ressourcenorientiert mit viel Potenzial. „Was ist denn auch die Alternative? Einen Zaun um Marxloh bauen?“

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