Die Lage im Überschwemmungsgebiet Houstoner kämpfen mit Folgen des Jahrtausend-Hochwassers

Houston (Texas) · Die Familie Pastoras hat im Hochwasser alles verloren. Wenigstens die Haustiere wurden gerettet. Eine aktuelle Beschreibung der Lage in der texanischen Metropole zeigt das ganze Ausmaß der Katastrophe.

Als Benny Pastoras Ehefrau Hellen an diesem sengend heißen Donnerstag wieder schlammigen Boden unter den Füßen hat, huscht ein Anflug tiefer Dankbarkeit über das Gesicht des pensionierten Mathematik-Lehrers.

Weil sein Haus in der Mason Street 35 Kilometer westlich der glitzernden Hochhaus-Silos von Houstons Innenstadt bedingt durch Hurrikan Harvey 1,50 Meter unter Wasser steht, haben die Polizeichefs von Fort Bend, Troy Nehls und dessen Zwillingsbruder Trevor, spontan einen Notfalldienst eingerichtet, der Gold wert ist.

Auf dröhnend lauten Airbooten, wie man sie aus den Everglades in Florida kennt, werden die Bewohner der auf zehn Quadratmeilen wie eine Badewanne vollgelaufenen "Cinco Ranch"-Siedlung im Westen der texanischen Metropole in kleinen Gruppen zu ihren Häusern geschifft. Um Haustiere abzuholen, die bei der Flucht zurückgelassen wurden.

"Wenn wir Familien, die alles verloren haben, mit ihren Lieblingen wiedervereinen können", sagt der auf seine deutsche Wurzeln stolze Ordnungshüter Nehls, „dann nimmt das etwas den Schmerz und ist jede Mühe wert."

Nach und nach kommen so Meerschweinchen, Papageien, Wellensittiche, Hamster und sogar ein Leguan an Land. Hellen Pastora bringt die Katze "Pinto" mit. Und, sie ist Orchester-Musikerin, eine wertvolle Violine. "Der Rest ist wohl verloren", sagt sie und muss dabei die Tränen unterdrücken.

Die Geschichte der Pastoras ist eine Woche nach dem Landgang des wohl regenreichsten Wirbelsturms aller Zeiten, der Amerika ökonomisch wie mental mitnimmt wie kein anderes Naturereignis der vergangenen Jahres, beinahe typisch.

Nicht der Hurrikan an sich hat ihr Leben durcheinander gewirbelt. Nicht die kleineren Tornados, die danach über das Land fegten. Nicht die apokalyptischen Niederschlagsmengen von bis zu 1250 Liter pro Quadratmeter.

Regenfälle überfluteten Houstons Rückhaltebecken

Erst als die in den 1940er Jahren von Army-Ingenieuren angelegten einzigen großen Regen-Rückhaltebecken Houstons, "Barker Cypress" und "Addicks", wegen Überfüllung zu bersten drohten und die Verantwortlichen um Bürgermeister Sylvester Turner den Stöpsel zogen, war ihr Schicksal und das Tausender anderer Hausbesitzer besiegelt - durch kontrollierte Überflutung.

Überschwemmungen in Houston
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Überschwemmungen in Houston

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Die Konsequenzen für die Pastoras sind verheerend: Wertverlust von knapp 250 000 Dollar. Schlussstrich nach 17 Jahren Glücklichsein an der Peripherie von Amerikas Energie-Haupstadt. Und die bange Frage, wie lange die existenzielle Notlage angesichts fehlender Flutschäden-Versicherung andauern wird, von der Präsident Donald Trump auch bei seinem zweiten Besuch in der Krisen-Region heute (Samstag) wieder sagen wird, dass man sie doch für alle Betroffenen "ganz bestimmt sehr zügig" lindern will.

Knapp sechs Milliarden Dollar Soforthilfe soll der Kongress in Washington schon nächste Woche auf Drängen des Präsidenten bewilligen. Zum Vergleich: Für Hurrikan Sandy, der 2012 an der Küste New Jerseys wütetet, machte das Parlament ein Paket von 50 Milliarden Dollar locker.

Pastoras Nachbar Larry Monahan, ein Mann mit dem Händedruck einer Bärentatze, glaubt Trumps Versprechen ebenso wenig wie der Beteuerung der unermüdlichen Einsatzkräfte, dass sein gediegenes Vorort-Haus in drei Wochen wieder fußläufig erreichbar sein wird. "Eher werden es drei Monate, bis das Wasser weg ist."

Schäden gehen in die Hunderte Milliarden

Der Versicherungsvertreter kennt sich im Kleingedruckten der Etats der Katastrophenschutzbehörde "Fema" aus, die gerade noch drei Milliarden auf der hohen Kante hat. Aber bereits 300.000 Anträge von Flutopfern aus Texas (Stand: Freitag) im Registrierungssystem. "Die Schäden reichen von Rockport im Westen bis Beaumont an der Grenze zu Louisiana. Das sind fast 500 Kilometer Küste. Sie können sich ungefähr ausrechnen, was da für jeden übrig bleibt."

Ob Texas' Gouverneur Greg Abbott, der sich mit Donald Trump seit Tagen ein republikanisches Duell der gegenseitigen Lobhudelei liefert, darum die voraussichtliche Schadenssumme für "Harvey" (bisher 100.000 beschädigte Häuser) auf über 125 Milliarden Dollar taxiert hat?

Monahan zuckt mit den Schultern und blickt auf das wie kalte Kaffee-Brühe aussehende Wasser in seiner Straße, über der Geschwader von Libellen kreisen. Es stinkt nach Fäulnis und Abfällen. Vereinzelt ragen Auto-Dächer und Kofferraum-Klappen aus den Fluten. Moskitos suchen nach nackten Helfer-Waden.

Dass es soweit kommen konnte, "kommen musste", ist für John und Dee Dillmann sonnenklar. Sie sind Hurrikan-Veteranen. Bis Ende August 2005 hatte das Ehepaar im French Quarter von New Orleans einen florierenden Second-Hand-Buchladen. Wirbelsturm "Katrina" hat sie erst um 70.000 Dollar ärmer und kurz danach zu Heimatvertriebenen gemacht. Im Houstoner Stadtteil Woodland Heights bietet ihr "Kaboom"-Laden heute Leseratten 100.000 eng gestapelte Bände. Und literweise Erfahrung im Umgang mit dem, was der trocken-ironische Patron "Wasser-Ereignisse" nennt.

"Es hört sich vielleicht seltsam an. Aber man darf sich einfach davon nicht überwältigen lassen", sagt Dillmann, "sonst kommt man nie mehr davon weg im Leben." Dee, seine Frau, lacht verlegen und streichelt die Hauskatze. "Wir sind ja diesmal auch glimpflich davon gekommen. Eine kaputte Fensterscheibe vom Sturm, viel mehr war nicht. Katrina hatte ein anderes Kaliber."

Ursachen der Überschwemmungen liegen in ungezügelter Bebauung

Nur die tieferen Ursachen beider Katastrophen, die seien vergleichbar: menschliches Fehlverhalten. In New Orleans waren es fahrlässig porös und zu klein dimensionierte Deiche, die ganze Stadtviertel absaufen ließen. "Houston entwickelt sich dagegen wie eine Metastase", sagt Dillmann.

Das Bevölkerungswachstum (seit 2000 knapp zwei Millionen mehr) geht einher mit einem ungezügelten Boom bei der Erschließung neuer Quartiere. Weil eine Bebauungsplanung nach europäischer Tradition nicht existiert, hat sich die Metropolen-Region samt versiegelter Flächen, Einkaufszentren und Schnellstraßen immer weiter und betonlastiger in die von Natur aus sumpfige Prärielandschaft gefressen. Dillmann kennt die Konsequenz: "Der Boden kann das Wasser nicht mehr aufnehmen. Kommt es wie schon 2001, 2009, 2015 und 2016 zu extremen Wetterlagen, steht Houston radikal unter Wasser." Ob "Harvey" im wachstumshörigen Texas einen Sinneswandel einleiten wird?

Bevor Dillmann den Kopf schüttelt, geht im "Kaboom" die Tür auf. David Theis kommt herein. Englisch-Lehrer und Buchautor. Er will zwei Dutzend Bücher kaufen. "Damit die Kinder in den Notunterkünften etwas Schönes erleben in diesen schweren Tagen". Die führende Lokalzeitung, der "Chronicle", berichtet von rund 50 Toten, die "Harvey" mittlerweile gefordert hat. Und die Gefahr ist trotz des blauen Spätsommerhimmels und Temperaturen über 30 Grad noch immer nicht gebannt. Der Brazos-Fluss stieg gestern (Freitag) auf einen Rekord-Pegel von über 17 Metern. Neue Überflutungen in einem 200 Quadratkilometer großen Gebiet südwestlich von Houston sind nach Angaben von Katastrophenschützern programmiert.

Wie gehen die Houstoner mit der Katastrophe um?

Im NRG-Zentrum außerhalb der Innenstadt, wo nebenan die Football-Profis der "Texans" ihre Heimat haben, versuchen Frida Villalobos und die anderen Mitarbeiter der über 100 Jahre alten Sozial-Organisation BakerRipley die düsteren Nachrichten nicht an ihre Schutzbefohlenen heranzulassen.

Spielsachen für die Kinder, frische Bettdecken und Ersatzkleidung in allen Größen und Farben, Zahnpasta und Shampoo, warme Mahlzeiten, weiche Feldbetten - wer hier, wo sonst Kongresse und Rodeoreiter herrschen, die kommenden Nächte verbringt, weil es "Zuhause" nur noch unter Wasser gibt, dem soll es an möglichst nichts fehlen.

Kierra Kenebrew, eine von 900 Kurzzeitbewohnerinnen, ist "verdammt froh" darüber. Die 25-Jährige gehört zu den Hunderten Zwangsevakuierten, deren Wohnung zur Entlastung der Dämme geflutet werden mussten. "Mein Auto ist hinüber. Mein Haus ebenfalls. Wir wissen noch nicht, wie es weitergeht." Wir, das ist neben der jungen Afro-Amerikanerin Söhnchen Messiah, gerade mal vier Wochen alt.

"Nicht mal 30 Minuten hatten wir Zeit, um das Nötigste zu packen", sagt die junge Mutter mit feuchten den Augen, "dann kam schon die Cajun Navy und hat uns abgeholt." Über die Freiwilligen-Truppe, die mit Booten und Wagemut aus Louisiana herbeigeeilt ist, um Houstonians vor dem Ertrinken zu retten, erzählt man sich in den Notunterkünften, in denen zurzeit über 30.000 Menschen untergebracht sind, wahre Wunderdinge. Zum Beispiel, dass sie die wahren Umweltschützer hier unten in den Bayous sind.

Für Dan Harris ist das alles sehr weit weg. Der 69-Jährige hat sich mit seinem Pitbull Bruno im Golf-Cart an der Kreuzung postiert, an der die Polizei die Straße zur Chemie-Fabrik Arkema nördlich von Houston abgesperrt hat. Dort gab es Hochwasser-bedingt mehrere Explosionen. Anwohner wurden im Umkreis von 2,5 Kilometer evakuiert. Harris blieb. "Angst habe ich nicht. Ich weiß, die stellen da gefährliches Zeug her. Muss man mit leben." Genau so wie mit Hurrikan Harvey und der Flut?

"Demokraten denken sofort immer an Klimawandel", sagt Harris, "Republikaner wissen: Mutter Natur hat schon immer das gemacht, was sie wollte. Gegen zwei Meter Wasser richtet niemand etwas aus." Sieht Nachbar Wendell Franklin auch so. Bevor der 62-jährige Mechaniker seinen Kautabak-Saft in den Straßengraben spukt und sich zur Arbeit aufmacht, sagt er: "Der liebe Gott hat mich vor der Flut beschützt. Sonst niemand."

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