Klimawandel in Alaska Ein Dorf gibt auf

Die 650-Seelengemeinde Shishmaref liegt auf einer flachen Insel in Alaska. Seitdem das Packeis ein seltener Gast ist, frisst sich das tosende Meer in die Küste und die Wärme in den Boden. Nichts ist mehr, wie es war. Die Bürger haben jetzt vor dem Klimawandel kapituliert.

 Die Winteridylle trügt: Nur wenige Monate im Jahr sind die Häuser in Shishmaref, die direkt an der Küstenlinie stehen, noch von dichtem Packeis geschützt.

Die Winteridylle trügt: Nur wenige Monate im Jahr sind die Häuser in Shishmaref, die direkt an der Küstenlinie stehen, noch von dichtem Packeis geschützt.

Foto: TONY WEYIOUANNA

Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten herrscht gerade Präsidentschaftswahlkampf. Es ist die Zeit der großen Worte und Gesten, der leeren Versprechungen und verquirlten Wahrheiten. Beobachter berichten, dass über den Klimawandel heftiger gestritten werde als einst über die Abtreibung. Mancher konstruiert gar Zusammenhänge, wie der evangelikale Prediger Tony Perkins, der Wetterextreme als Naturkatastrophen deutet und diese als göttlichen Zornesausbruch gegen Abtreibungen und Homosexuelle. Noch einfacher sieht es Donald Trump, Kandidat der Republikaner. Die menschengemachte Erderwärmung sei „Bullshit“.

Der verbale Bulldozer sagt viel in diesen Tagen, hat aber noch nichts zu sagen. Redet Trump sich in Rage, ist alles möglich: „Das Konzept der Erderwärmung ist von und für Chinesen gemacht worden, um unsere Industrien weniger konkurrenzfähig zu machen.“ Tausende Kilometer weiter nördlich haben sie genau zugehört. Die indigenen Ureinwohner mit US-Pass müssen sich von Trump verhöhnt fühlen, denn hier in der Arktis, wo die Erwärmung seit Jahren radikaler als anderswo wirkt, spitzt sich gerade der Überlebenskampf zu. Aber das Schicksal der Handvoll Wahlberechtigten dürfte Trump kaum interessieren.

Das Packeis legte sich wie eine Trutzburg um das Inselchen

Bei den vielen Aufgeregtheiten, die so ein Wahlkampf in die Medien spült, schaffte es Shishmaref Ende August nur in die Meldungsspalte: Ein Bürgerentscheid, der die Kapitulation vor dem Klimawandel bedeutet. Wie das Onlinemagazin „Grist“ unter Berufung auf die Gemeindeverwaltung berichtete, hätten 89 Menschen „dafür“ und 78 „dagegen“ gestimmt – letztere aber nur deshalb, weil sie bei einer Umsiedlung den kulturellen Niedergang befürchten.

Die Pro-Umsiedlung-Wähler sorgen sich dagegen mehr um die Zukunft ihrer Kinder. Das ist im vom Klimawandel gezeichneten Shishmaref ein starkes Argument: 107 Wahlberechtigte in einer 650-Seelengemeinde spiegeln demografisch ein sehr junges Dorf. Das Durchschnittsalter betrug Ende 2014 21,3 Jahre und lag damit rund 12 Jahre unter dem von Gesamt-Alaska, dem größten und dünnbesiedelsten Bundesstaat der USA.

Im Weißen Haus in Washington ist Shishmaref spätestens seit Ende 2015 mehr als irgendein Dorf im Niemandsland. Da hatte der 19-jährige Esau Sinnok aus ebendiesem Shishmaref dem US-Innenministerium sehr konkret (siehe Bürgeressay) die Lage geschildert: „Ich bin 1997 geboren und seitdem hat Shishmaref etwa 30 Meter verloren. In den letzten 15 Jahren mussten wir wegen dieses Landverlustes 13 Häuser – einschließlich des Hauses meiner Oma Edna – von einem Ende der Insel zum anderen verlegen.“

Sinnok ist von Geburt an ein Kind des Klimawandels. Das seitdem Erlebte hat er hochgerechnet: „In den nächsten 20 Jahre wird die Insel komplett verschwinden“ – vom Arktischen Ozean geradezu geschluckt. Deshalb jetzt auch der Bürgerentscheid: Wir geben auf. Die letzten Tage einer seit rund 4000 Jahren bestehenden Siedlung haben begonnen.

Es ist so gekommen, wie es Al Gore, Präsidentschaftskandidat der Demokraten, vor 16 Jahren prophezeit hatte. Die Bewohner von Shishmaref würden die „ersten Klimaflüchtlinge der Erde“ sein. Ob das mit den „Ersten“ weltweit zutrifft, ist unwahrscheinlich, vermutlich sind es die ersten US-amerikanischen Klimaflüchtlinge, denn der Pegel des Weltozeans steigt unmerklich in jedem Erdwinkel und versenkt überall das, was für Einheimische Heimat bedeutet – von Touristen als Paradieswelten empfundene Pazifikatolle ebenso wie eben auch Shishmaref.

Das Dorf liegt auf einem Eiland namens Sarichef, nur einen Steinwurf von der Küste Westalaskas entfernt und fast genau auf dem Polarkreis. Drei Meter hoch „ragt“ die höchste Erhebung. Und doch wirkt die Klimawandel-Mechanik auf dem arktischen Inselchen anders als etwa auf den mehr als – 11 800 Kilometer entfernten – 1200 Eilanden und Atollen der Malediven, die meist nur einen Meter aus dem Ozean lugen. Beide Wirkungsketten produzieren indes dasselbe Ergebnis: Klimaflüchtlinge.

Dauerfrostboden: Auch der Inuit-Kühlschrank wurde zu warm

Das Packeis, das sich seit Jahrtausenden mit der Zuverlässigkeit einer Erddrehung um Shishmaref legte, war so etwas wie eine tiefgefrorene Trutzburg gegen die Wellen der Tschuktschensee. Das Eis sicherte auch die Nahrung der Inuits. Riesige Schollen trieben in Küstennähe – quasi Teller, auf denen der Ozean Walrosse, Robben und Eisbären servierte, dazu viel Frost- und Weißfisch, die Jagd auf Karibus auf dem Festland, und manchmal nutzten die Inuits von Shishmaref auch die Walquote für Ureinwohner. Doch ohne Packeis ist auch das aussichtslos. Manche Gemeinde hat seit 20 Jahren keinen Wal mehr erlegt.

Rund 80 Generationen haben hier bei extremen Minusgraden im Winter überlebt. Insofern hat das Kommen und Gehen des Eises auch Traditionen und Kulturen hervorgebracht. Alles löst die globale Erwärmung nun im Nichts auf: nach dem Zeitmaßstab des Menschen in erlebbaren Etappen, nach dem der Natur im Handstreich. Doch egal, ob das Veränderungstempo als Zeitlupe (Mensch) oder als Zeitraffer (Ökosysteme) empfunden wird. Am Ende bleibt nur die Flucht.

In Shishmaref hatte es unmerklich angefangen. Das Eis kam zunächst nur Tage später. Die Menschen dachten an eine Laune der Natur. Sie hatten zwar von unsichtbaren Gasen gehört, ausgestoßen von fernen Kraftwerken und Autos, aber so recht konnten sie sich die Gefahr nicht vorstellen. Später wurden aus Tagen Wochen, aus Wochen Monate. Dann zog das Eis sich auch früher als gewohnt zurück. Wieder erst tage-, dann wochen-, schließlich monatsweise.

Wer damals das Gras wachsen hörte und die ersten Regungen im Eis mit dem prophezeiten Klimawandel verknüpfte, hörte, dass dies „wissenschaftlich noch nicht bewiesen ist“ – wie heute auch nach sintflutartigen Starkregen. Das war und ist korrekt, aber unwahrscheinlich. Die Arktis gilt als globales Frühwarnzentrum. Ein hier beobachteter Trend gilt bald für den ganzen Planeten.

Viele Dinge passierten im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, und alle setzten große Fragezeichen hinter die Ewigkeit des Eises. 1991 wurde in den Ötztaler Alpen die 5000 Jahre alte Gletschermumie „Ötzi“ aufgetaut. Klimawandel? Oder Klimahysterie? Sechs Jahre (1997) später nutzten Forscher den Auftaualarm auf der nordsibirischen Taimyr-Halbinsel, um ein Mammut auszugraben. Der Leichnam des Riesen lag seit rund 20 000 Jahren tiefgekühlt im Permafrost. Klimawandel? Oder Klimahysterie? 1997 ist auch das Jahr, in dem Esau Sinnok in Shishmaref geboren wurde.

Die Dauerfrostböden wirkten wie Zement

Schritt für Schritt wurde es auch in Sinnoks Dorf wärmer. Das schützende Packeis fehlte jetzt ausgerechnet in jenen Monaten, in denen die Herbststürme wüten. Sturmfluten zerhackten die Küste. Zur Jahrtausendwende kippte das erste Haus in Shishmaref ins Meer. Fast parallel zum Packeis-Schwund tauten die Dauerfrostböden auf. Dieser Permafrost wirkt wie Zement: Er hält alles zusammen und schafft einen stabilen Untergrund – für Masten, Straßen, Gebäude.

Bald kippten nicht nur in Shishmaref die Häuser. Das vereiste Fundament metamorphisierte in halb Westsibirien zum Wackelpudding. Dort versinkt mittlerweile in – wärmeren – Sommern Vieles im Schlamm: Pipelines, Landepisten, Kraftwerke, Gleise. Selbst die Bäume schwanken; Forscher sprechen von „betrunkenen Wäldern“. Und Sarichef samt Shishmaref? Letztlich eine Düneninsel, eine vom Dauerfrost zusammengeklebte Sandbank, die von Wärme, Wind und Wellen gerade pulverisiert wird.

Doch die arktischen Ureinwohner nutzen den Permafrost auch als Tiefkühltruhe. Die Beerenernte, getrocknetes Karibufleisch, fermentierte Heringe: Alles verstauen die Menschen als Wintervorrat in der Erde. Dann gab es beunruhigende Nachrichten aus anderen arktischen Siedlungen, „wo etliche Leute an Botulinvergiftungen erkrankt waren, weil ihr Fleisch verdorben war“, erinnert sich der damalige Bürgermeister Stanley Tocktoo. Und so geriet auch die traditionelle Kühlmethode zum Risiko. Botulin ist das Werk von Bakterien, die Tausende Jahre tiefgefroren in einer Art Koma verharren. Küsst die Wärme sie wach, beginnen sie, alles Organische zu zersetzen (siehe Info-Kasten) und produzieren – ausgerechnet – weitere Treibhausgase.

Gerade in der Arktis müssen die Bewohner diese Rückkopplungen wie eine Verschwörung empfinden. Die vertraute Beziehung zum vermeintlich ewigen Eis hat übertüncht, auf welchem Pulverfass sie tatsächlich leben. Es ist ein einfacher, aber spontan nicht verständlicher Satz: Es wird (noch) wärmer, weil es wärmer wird. Die Menschen in Shishmaref leben zwar in einfachsten Verhältnissen, aber sie haben die Folgen dieses Satzes schnell begriffen. In der Arktis hat der Klimawandel die Lunte zu einer Erwärmungsbombe gezündet und für jedes Dorf eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt. Die Lebensweise der Ureinwohner ist chancenlos.

Niemand wollte die Kosten für die Umsiedlung tragen

Deshalb haben sie in Shishmaref vor 14 Jahren (2002) schon einmal abgestimmt – für eine Umsiedlung. Als die Kosten dafür – rund 180 Millionen Dollar – abgeschätzt wurden, wollte niemand sie übernehmen. Erst recht nicht das Weiße Haus. Denn Shishmaref könnte ein teurer Präzedenzfall werden. Studien sehen mehr als 30 Shishmarefs auf US-Staatsgebiet und rund 150 weitere im weiten Arktisland anderer Nationen. Trump würde es vermutlich einfach sehen: kein Klimawandel, keine Klimaflüchtlinge. Eben Schicksal, aber der Staat müsste trotzdem helfen, hat aber in Shishmaref noch nicht einmal eine Betonmauer gegen Flutwellen hinbekommen.

So ist der neuerliche Bürgerentscheid auch mehr Hilferuf als konkreter Umzugsplan: Wir sind bereit zu gehen, aber helft uns. „Nichts zu tun, ist keine Option“, sagt Howard Weyiouanna, der Bürgermeister von Shishmaref. Die zentralen Fragen sind in der Arktis dieselben wie im Pazifik: Wo sollen wir hin? Wer ist schuld? Wer haftet und zahlt?

Die Welt drückt sich einstweilen um eine Antwort herum und hat einen Klimafonds aufgelegt, der freilich noch nicht gefüllt ist, um daraus 100 Milliarden Dollar pro Jahr an Entschädigungen zu zahlen. Weyiouannas Kollege aus dem nördlicher gelegenen Dorf Kivalina wollte es genauer wissen. Das Dorf verklagte 2009 US-Energie-Unternehmen in Kalifornien, die über die freigesetzten unsichtbaren Gase seine Lebensgrundlagen zerstörten. Die Richter in San Francisco mussten passen: Es könne nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob US-amerikanische Treibhausgase ursächlich seien oder nicht etwa russische, deutsche oder chinesische.

„Umweltschädigung“ ist als Fluchtursache nicht vorgesehen

Das Dilemma ist offenkundig: Die Einzeltäter bleiben in der großen Masse aller Täter anonym, die Opfer nicht. Letztere sitzen im Wartesaal des Völkerrechts, das auch keinen Hebel liefert. Selbst die Genfer Flüchtlingskonvention hilft nicht weiter, „Umweltschädigung“ ist als Fluchtursache nicht vorgesehen. „Der menschgemachte globale Klimawandel“, so Germanwatch, „hat das Potenzial, das perfekte Verbrechen neu zu definieren.“ Täter, Motive, Zeugen – alles vorhanden. „Und dennoch: Als Täter kann niemand zur Verantwortung gezogen werden.“

Während die Verlierer in der Arktis bisher von niemandem eine Antwort erhalten, die sie in die Zukunft trägt, durften sich die Passagiere der „Chrystal Serenity“ wie Gewinner fühlen. Erstmals hatte ein riesiges Kreuzfahrtschiff – 1000 Gäste, 700 Servicekräfte – die eisfreie Nordwestpassage im Spätsommer gemeistert. Gestern lief die „Serenity“, nachdem sie in Anchorage (Alaska) gestartet und keinem Eisberg begegnet war, in New York ein. Die Premiere hatte 32 Tage gedauert, pro Passagier zwischen 25.000 und 150.000 Dollar gekostet und war im Handumdrehen ausverkauft gewesen.

Die Reederei, heißt es, sei sehr sensibel mit den Ureinwohnern umgegangen und hatte schon vor Monate Kundschafter in jene dem Untergang geweihten Dörfer gesendet, die an der Kreuzliner-Route liegen. Lehnte ein Hundertseelen-Dorf es ab, Ziel eines Landausfluges von mehr als 1000 Neugierigen zu sein, wurde das akzeptiert. Einige Landausflüge per Schlauchboot standen trotzdem auf dem Programm, weil einige Inuit-Gemeinden sich für die Aussicht auf einige Touristendollars entschieden hatten.

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