Zuflucht in das häusliche Glück Neo-Biedermeier: Die neue Sehnsucht nach Zuhause

Bonn · In Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung suchen viele Menschen Zuflucht im häuslichen Glück und im Privaten. Einen Namen für das Phänomen gibt es auch schon: Neo-Biedermeier.

 Biedermeier in der Kunst: Ausschnitt aus Carl Spitzwegs „Der ewige Hochzeiter“.

Biedermeier in der Kunst: Ausschnitt aus Carl Spitzwegs „Der ewige Hochzeiter“.

Foto: picture-alliance / akg-images

Sind Sie heute Morgen schon in die Gummistiefel geschlüpft und haben nach den Hühnern gesehen? Oder mussten Sie erst noch die neue Ausgabe der „Landlust“ lesen, bevor sie später im Internetportal DaWanda Ihre eingekochte Marmelade einstellen? Dem Fernsehen haben Sie ja schon vor Jahren abgeschworen, später wird noch gebacken. Und danach geht es mit Freunden in den Wald.

Kommt Ihnen das vertraut oder zumindest verlockend vor? Dann gehören Sie vielleicht auch schon dazu: zum Neo-Biedermeier. Plötzlich war er da, dieser Begriff. Soziologen, Trendforscher und Feuilletons bemühten mit einem Mal eine Ära, die lange Zeit eher belächelt wurde denn als Vorbild diente. „Biedermeier“, das war doch im 19. Jahrhundert diese Zeit mit gekünstelt heiler Welt, Kaffeekränzchen, Tabaksqualm und Spießigkeit.

Etwas nüchterner lässt sich konstatieren, dass sich das Bürgertum in der Zeit zwischen dem Wiener Kongress und der Bürgerlichen Revolution in die scheinbare Sicherheit des Heimes zurückzog, um den politischen Restriktionen der Restaurationszeit mit Karlsbader Beschlüssen und strengster Zensur, den Umwälzungen der Industrialisierung und den Unbillen des Pauperismus zu entgehen.

„Flucht in das Bewährte, das Kontrollierbare“

Zurück in die Gegenwart, in der Forschungsinstitute um Parallelen nicht verlegen sind: Auch heute führten die Angst vor Globalisierung, die allgemeine Beschleunigung, Kriege und Massenmigrationen zu einer zunehmenden Frustration über die politischen Strukturen, stellen die Trendforscher vom Frankfurter „Zukunftsinstitut“ fest.

Die Furcht vor der Geschwindigkeit des Lebens, der Ohnmacht gegenüber globalen Dynamiken und vor dem Verlust der Privatsphäre aufgrund der Digitalisierung der Welt sorge als Gegenreaktion für eine „Flucht in das Bewährte, das Kontrollierbare“ – das häusliche Glück. Gerade Menschen, die heute um die 30 sind, wuchsen in einer Zeit auf, in der vieles in Rutschen kam: Die innere und äußere Sicherheit, die Stabilität der Währung, die Weltwirtschaft, das Klima, die zu erwartende Rente. Das wiederum, so die Soziologen, wecke die Sehnsucht nach Beständigkeit und Ruhe.

Mag die Kategorisierung einer neuen „Generation Biedermeier“ auch übertrieben erscheinen, so sind bestimmte Symptome nicht zu leugnen. Wobei die auf dem Flohmarkt erstandene Kaffeemühle oder die Hirschgeweihe, die goldenen Bilderrahmen und die Plüschsofas, wie sie neuerdings in Clubs und Studentenkneipen auftauchen, allenfalls die Rolle modischen Beiwerks ausfüllen.

Es gibt substanziellere Indizien für eine Renaissance der Bürgerlichkeit. Beispielsweise die Verstärkung der Gruppenbildung in den individualistisch geprägten Großstädten – sei es die Senioren-WG, sei es die inszenierte Dörflichkeit des „Veedels“ oder das Gemeinschaftserlebnis beim „Urban Gardening“ – sowie die hohe Nachfrage nach Wohneigentum.

Entpolitisierung des gesellschaftlichen Lebens

Überlagert wird all das von einer weitgehenden Entpolitisierung des gesellschaftlichen Lebens. Die Achtundsechziger hatten noch postuliert: „Das Private ist politisch“. Wer hat hingegen heute noch Lust auf leidenschaftlichen, kontroversen Disput im Bekanntenkreis? Die Gründe sind vielschichtig und Parallelen zum 19. Jahrhundert evident: Das Gefühl der Ohnmacht des Einzelnen gegenüber dem per se längeren Arm eines gouvernantenhaften Staates, dessen Repräsentanten Teile der eigenen Bevölkerung als „Pack“ bezeichnen und im selben Atemzug über Hassbotschaften jammern.

Die Sorge vor gesellschaftlicher Ächtung, vor dem Bruch von Freundschaften oder gar vor Repression, weil sich die Grenzen der Toleranz gegenüber abweichender Meinung verengt haben. Oder die diffuse Beliebigkeit austauschbar erscheinender Volksparteien, die zwar in den vergangenen 40 Jahren nahezu die Hälfte ihrer Mitglieder (und Wähler) verloren haben, sich um die permanente Restauration ihres vermeintlich alternativlosen Machtgefüges qua perpetuierter großer Koalition aber nicht sorgen müssen.

Während also staatliche Institutionen unter permanentem Bruch der selbst gesetzten Normen die Finanzkrise verschleppen und die Sozialdividende ganzer Generationen verspielen, lassen Malbücher für Erwachsene gestresste Großstädter zum Buntstift greifen. Und die Leute unter 30? Sind damit beschäftigt, auf Instagram die neuesten Fotos von sich (oder von ihrem Essen) hochzuladen.

Doch Vorsicht, denn auch die Harmlosigkeit kann es mächtig in sich haben. Die Biedermeierzeit, dies wird bei den Vergleichen gern vergessen, endete vor 170 Jahren auf den Barrikaden der Revolution. Im Schatten der Gemütlichkeit war der Vormärz angebrochen. Die Lektüre seiner Beschreibungen lohnt sich, egal ob als Politiker oder Bürger. Dabei kann man ja Biolimonade trinken und Peter Fox hören: „Und am Ende der Straße steht ein Haus am See ...“.

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