Erinnerung an Erfurter Schulmassaker Gedenken an die 16 Opfer von vor 15 Jahren

Erfurt · Das Schulmassaker am Erfurter Gutenberg-Gymnasium liegt 15 Jahre zurück. Mit einer Gedenkstunde will die Schule am 15. Jahrestag an die Opfer der Bluttat vom 26. April 2002 erinnern.

 Simone Liebl-Biereige, aufgenommen am 13. April 2017 im Helios Klinikum Erfurt, ist Chefärztin der Klinik für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie. Als Notärztin kam sie am 26. April 2002 nach dem Amoklauf in das Gutenberg-Gymnasium.

Simone Liebl-Biereige, aufgenommen am 13. April 2017 im Helios Klinikum Erfurt, ist Chefärztin der Klinik für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie. Als Notärztin kam sie am 26. April 2002 nach dem Amoklauf in das Gutenberg-Gymnasium.

Foto: dpa

Am 26. April 2002 wird die Ärztin Simone Liebl-Biereige nach einem anstrengenden Nachtdienst in ihrer Wohnung in Erfurt von Telefonklingeln geweckt. „Am Gutenberg-Gymnasium wird geschossen“, ruft ihr eine aufgeregte Stimme ins Ohr. 15 Jahre liegt es zurück, dass sich in der thüringischen Landeshauptstadt ein in dieser Dimension in Deutschland bis dahin nicht gekanntes Schulmassaker ereignet. In nicht ganz einer Viertelstunde erschießt ein 19-Jähriger in der Schule 16 Menschen, bevor er sich selbst tötet. Liebl-Biereige gehört zu den Notärzten, die in der Schule im Einsatz sind.

Liebl-Biereige hat die Bilder von damals noch vor Augen. „Mein Auftrag lautete, nach verletzten Schülern zu suchen“, erzählt die heute 47-Jährige, die unter dem Schutz eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) in das Schulgebäude kommt. Hilfe leisten kann sie nicht mehr. Elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten hat der Amokschütze, ein ehemaliger Schüler des Gymnasiums, getötet. Die Toten liegen im Sekretariat, im Treppenhaus, in Unterrichtsräumen. Auch eine frühere Lehrerin der Ärztin ist unter ihnen.

„Kopf- und Bauchverletzungen, teilweise aus nächster Nähe abgegeben“, beschreibt die Ärztin. „Es war wie eine Hinrichtung.“ Der 19-Jährige, Mitglied in einem Schützenverein und deshalb zum Waffenbesitz berechtigt, war kurz vor der Tat wegen eines gefälschten Arzt-Attests von der Schule verwiesen worden. Die Lehrer erschießt er gezielt, die Schüler trifft er durch eine geschlossene Tür.

Am Gutenberg-Gymnasium lernen heute 650 Schüler, 15 der 55 Lehrer haben die Tragödie damals miterlebt. Nicht alle wollten über ihre Erlebnisse sprechen, sagt Dominik, ein 17 Jahre alter Schüler, der kurz vor dem Abitur steht. Allerdings: „Wenn ein Klassenbuch auf den Tisch fällt oder es einen Knall gibt, zuckt mancher zusammen.“ Eine 15-Jährige, die anonym bleiben möchte, erzählt von ihrer Schwester. Sie sei damals während der Schüsse in der Schule gewesen. „Sie hat nie darüber erzählt. Sie schweigt.“

„Als wir nach der Grundschule aufs Gutenberg-Gymnasium gewechselt sind, hatten einige Angst, dass sich sowas wiederholt“, erzählt der 18-jährige Nick. Im Schulalltag spielten die Ereignisse aber kaum eine Rolle. „Es sollte endlich mal gut sein“, meint ein Anwohner, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Die Schüler von damals sind längst aus der Schule. Man macht die jetzigen Schüler nur noch verrückt.“

„Niemand war damals auf ein solches Ereignis vorbereitet“, bilanziert die Medizinerin Liebl-Biereige, die sich vor allem an ein Kommunikationsdesaster unter den zwei Einsatzleitungen erinnert. Während SEK-Kräfte auf der Suche nach einem vermeintlichen zweiten Täter mehrere Stunden lang jeden einzelnen Raum durchkämmten, konnten Rettungskräfte nicht ins Gebäude. In Klassenzimmern harrten völlig verängstigte Schüler teils bis zum Nachmittag aus, unter ihnen auch zwei Neffen der Ärztin.

Der Polizeieinsatz führte später zu kontroversen Diskussionen, die Landesregierung setzte eine Kommission zur Untersuchung der Abläufe ein. Diese kam zu dem Schluss, dass die Kommunikation zwischen den Einsatzkräften viele Schwachstellen gehabt habe, was zum Teil auf die Technik zurückzuführen sei. Im Grundsatz aber stellte sich der Bericht hinter das Vorgehen von Polizei und Rettungsdienst. Dennoch gab es Konsequenzen: Die Polizeitaktik ist zum Beispiel für solche Fälle überarbeitet worden. Nunmehr sollen auch Streifenpolizisten bei Amokläufen sofort in das Gebäude zum Täter vordringen.

Aus den damaligen Defiziten seien Lehren gezogen worden, findet auch Liebl-Biereige. Thüringer Einsatzkräfte trainierten verstärkt in verschiedenen Konstellationen das Zusammenwirken bei Krisensituationen mit vielen Verletzten, es gebe eine schnelle Einsatzgruppe aus Ärzten, Sanitätern und Pflegekräften für solche Fälle.

„Heute gibt es in allen Bundesländern Notfallpläne für Amokläufe an Schulen“, sagt Ilka Hoffmann, Mitglied im Bundesvorstand der Bildungsgewerkschaft GEW. „Da ist wirklich etwas passiert.“ Vorreiter war Thüringen, wo als Konsequenz aus dem Schulmassaker praktische Hinweise für Krisensituationen erarbeitet und schulische Krisenteams aufgebaut wurden. Das Gutenberg-Gymnasium selbst ist seit einem Umbau nach dem Schulmassaker mit einem modernen Informationssystem ausgestattet, über die Warnungen in jeden einzelnen Raum in dem Gebäude durchgegeben werden können.

Hier sei allerdings an anderen Schulen noch einiges zu tun, findet Christiane Alt, damals wie heute Direktorin des Gutenberg-Gymnasiums. „Es ist erstaunlich, dass es 15 Jahre danach immer noch Bedarf gibt.“

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