Spott über Sängerin Warum es schön ist, dass es Madonna gibt

BONN · Es ist gerade schick, Madonna zu verspotten. Warum nur? Lieber sollte man sich für ihre Lebensleistung bedanken. Ein Text darüber, warum es schön ist, dass es Madonna gibt.

 Madonna will es nach längerer Pause wieder wissen.

Madonna will es nach längerer Pause wieder wissen.

Foto: Chris Pizzello/Invision/AP

Die Rolling Stones sind eine enorm wichtige Band. Sie hat Grenzen gedehnt und gesprengt, sie hat der Popkultur neue Impulse gegeben und vielen Menschen in den 1960er Jahren gezeigt, dass man auch anders leben kann, freier nämlich und selbstbestimmt. Die Rolling Stones haben ihre letzte durchweg großartige und wirklich relevante Platte zwar bereits im Jahr 1978 veröffentlicht, aber das macht nichts. Auf ihren Konzerten werden die Musiker heute wegen ihrer Lebensleistung gefeiert: Schön, dass es euch gibt!

Wenn man nun die Urteile über Madonna und ihre neue Platte liest, fragt man sich: Warum ergeht es ihr nicht wie den Stones? Warum wird sie nicht respektvoller behandelt? Ihre Lebensleistung ist doch mindestens ebenso hoch zu schätzen wie die von Mick Jagger, Keith Richards und Co. Stattdessen: Häme, Schadenfreude, apodiktische Richtersprüche. Bei Twitter hat sich unter dem Stichwort #Madonna ein Chor versammelt, der sich darin gefällt, „zu alt“ zu rufen, „zu durch“ und „zu ideenlos“. Begonnen hat das alles nach Madonnas Auftritt beim Eurovision Song Contest. Er habe die Karriere der 60-Jährigen „ruiniert“, schrieb die „Welt“. „Spiegel Online“ befand, er sei „vielleicht sogar der Endpunkt“ ihrer Karriere.

Es gibt Künstler, deren Werk so groß ist, dass eine einzelne Neuerscheinung es nicht mehr erschüttern kann. David Bowie etwa: Der wichtigste, weil einflussreichste Soloperformer des Pop hat von Mitte der 1980er Jahre bis zur Jahrtausendwende ein paar unglaublich schlechte Platten veröffentlicht – man denke nur an sein Bandprojekt Tin Machine. Das war und ist aber egal, weil Bowie als Symbol wirkt. Er war ein Astronaut, der schon mal vorausgeflogen ist in die Zukunft, und er fungierte als Korrespondent, der uns berichtete, wie es dort zugeht.

Madonna hat den Spieß umgedreht

Mit Madonna ist es ähnlich. Sie zeigte uns, was kommt, schrieb die „New York Times“ jetzt in einem Porträt. Vieles von dem, was wir heute hören, hören wir nur, weil Madonna es populär gemacht hat. Vieles von dem, was wir heute diskutieren, ist überhaupt nur ein Thema geworden, weil sie es dazu gemacht hat. Vor Madonna war Pop eine zumeist männliche Veranstaltung. Die Stones haben vor allem die männliche Fantasie beflügelt.

Mit einiger Verzögerung hat Madonna den Spieß umgedreht, indem sie sagte: Was die Jungs kriegen, steht mir auch zu. Insofern ist die wichtigste Szene ihres Werks die legendäre letzte Einstellung des Videos zu „Justify My Love“. Da kommt sie lachend aus einem Hotelzimmer, in dem sie ihren gut gebauten Toy Boy zurückgelassen hat. Die Jungs von MTV wollten den Clip 1990 übrigens nicht zeigen. Madonna veröffentlichte ihn kurzerhand auf eigene Faust als Video-Single und verdiente sich eine goldene Nase.

Madonna mochte nicht akzeptieren, dass Plattenbosse über sie bestimmen. Seit dem dritten Album hält sie deshalb die Autorenrechte an ihren Songs. Und sie nahm nicht hin, dass Rockstars wie Robert Plant mit nacktem Oberkörper auf der Bühne stehen dürfen, Frauen aber nicht. Sie stellt ihren Körper aus, und zwar so, dass er nicht Objekt ist, sondern Nacktheit zum Zeichen ihrer Selbstermächtigung wird. So ist auch der berühmte „Cone Bra“ zu verstehen, der spitze BH, den Jean Paul Gaultier ihr geschneidert hat: der Körper als Waffe. Dass Feminismus Kraft hat, ist auch Madonnas Verdienst. Sie ist keine Erfinderin, aber die Pionierin des Populären: Es genügt nicht, dass etwas Wichtiges in der Welt ist, findet sie, es muss von der Welt auch wahrgenommen werden.

Madonna ist Punk, aber ohne Gitarre

Madonna ist keine Album-Künstlerin, selbst von ihrer besten Platte, „Like A Prayer“, hört man doch ehrlicherweise nur die Handvoll Singles, die sie hervorgebracht hat. Die Single ist ihre Kernkompetenz, der einzelne Song samt übergeordneter Inszenierung. „Papa Don’t Preach“: Teenager-Schwangerschaft. „Like A Prayer“: Blasphemie-Vorwurf wegen des Videos mit dem Heiligen. „Express Yourself“: der Griff in den Schritt. Und so weiter.

Die Künstler-Persona Madonna steht gegen Homophobie, Misogynie, Rassismus und jede Art von Autorität auf. Und nach allem, was man über die Privatperson weiß, beglaubigt die das Werk. Sie ist die Königin der Widerspenstigkeit. Madonna ist Punk, aber ohne Gitarre. Seit Beginn ihres Spätwerks, das mit „Hung Up“ aus dem Jahr 2005 beginnt, zeigt sie zudem, wie man als älterer weiblicher Popstar und alleinerziehende Mutter von sechs Kindern erfolgreich sein kann – keine hat so lange auf diesem Niveau durchgehalten.

Madonna lehrt, dass Kunst kontrovers sein muss, sonst ist sie bloß Unterhaltung. Sie bringt die Welt zum Tanzen und zum Streiten. Egal, ob sie als Jungfrau auf die Bühne tritt, als Yogalehrerin, Kaballa-Schülerin, Dancing Queen, Braut oder Domina. Es wird nicht langweilig mit ihr. Sie ist die Vortänzerin in der Diskurs-Disco.

Solokünstlerinnen haben es besonders schwer

Langweilig ist denn auch die neue Platte nicht. „Madame X“ heißt sie. Das ist ein ambitioniertes Werk, in das man sich erst einhören muss. Madonna produziert nicht mehr bloß klassische Popsongs, sondern Suiten wie „Dark Ballet“, das seine Temperatur plötzlich ändert, mit gedrosselter Geschwindigkeit weitergeht und den Hörer fordert. Man spürt eine neu entfachte Zuneigung zu lateinamerikanischen Motiven, zu Flamenco und Fado. Aber zu sagen, das sei so, weil sie auf den Zug aufspringen wolle, den der Welthit „Despacito“ in Fahrt gebracht hat, ist Humbug. Madonna hat ja schon in den 1980er Jahren zu „La Isla Bonita“ die Kastagnetten klappern lassen.

Solokünstlerinnen haben es besonders schwer, ihre Popularität zu verteidigen, ihr Publikum zu halten und neue Fans hinzu zu gewinnen. Katy Perry etwa kehrte nach einem vergleichsweise unpopulären „erwachseneren“ Album zurück zu ihrem California-Happy-Sound. Taylor Swift klingt nach einer verhalten erfolgreichen düsteren Platte neuerdings wie eine Kinderkirmes.

Madonna behauptet sich auf diesem Markt seit 40 Jahren, sie wirkt von der Bühne in die Gesellschaft, und sie hat mitgeholfen, dass wir heute so leben können, wie wir leben wollen. Ein bescheuerter Auftritt und eine mittelmäßige Single sollten den Blick darauf nicht verstellen.

Vielleicht ist die Häme, die ihr nun entgegenschlägt, aber gerade ein Zeichen dafür, dass sie immer noch irritiert, die Menschen aufregt, zu Widerspruch reizt. Insofern wäre das der Ausweis ihrer ungebrochenen Relevanz. „We go hard or we go home“, singt sie.

Schön, dass es sie gibt.

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