Lesetipps zur Frankfurter Buchmesse Im C&A-Anzug zum Dinner bei Königin Beatrix

FRANKFURT · Autoren, Verleger, Lizenz(ver)käufer – und auch die Leser sind nicht ganz unwichtig: Am Main trifft sich wieder alles, was in der Buchwelt Rang und Namen hat oder haben möchte. Tausende von Büchern warten auf die Besucher. Wer soll, wer kann das alles lesen? Unsere Rezensenten haben eine Auswahl getroffen.

Connie Palmen:Du sagst es. Als 1997 der Gedichtband „Birthday Letters“ des englischen Autors Ted Hughes veröffentlicht wurde, reagierte die Londoner „Times“ mit einem Leitartikel. Darin hieß es ohne Furcht vor Übertreibung: „The greatest book by our greatest living writer“. In dem Buch setzt sich Hughes mit dem Tod seiner Frau Sylvia Plath, einer ebenfalls bedeutenden Lyrikerin, auseinander, die sich 1963 im Alter von 30 Jahren umbrachte.

Hughes, dem von feministischen Kreisen bis zu seinem Tod 1998 der Tod seiner Frau zum Vorwurf gemacht wird, empfindet in seinen Gedichten eine komplexe, komplizierte, am Ende unglückliche Liebesgeschichte nach. Noch nie war die lyrische Sprache des Dichters so zugänglich, der Gehalt seiner Verse so unmittelbar verständlich gewesen. Connie Palmens Roman „Du sagst es“ ist so etwas wie Hughes' Lyrikband in Prosa. Der Dichter legt im fiktiven Rahmen des Buches Rechenschaft ab über eine außergewöhnliche Beziehung. Sylvia Plath wird mit den Worten eingeführt: „Sie war ein süß duftendes Gefäß voll Gift.“

Palmen gelingt es, das Biografische mit der Kunst zu verschmelzen. Sie beschreibt mit viel Einfühlungsvermögen und analytischem Geschick den Himmel auf Erden, den Plath und Hughes in kurzen Augenblicken genossen, und die schier endlosen Höllenqualen, die ihr Zusammenleben vergifteten. Sylvia verbirgt ihre psychischen Probleme, ihre permanente Selbstmordgefährdung unter einer Maske aus Ehrgeiz, Durchsetzungskraft und „Just do it“-Optimismus.

Hughes ist der attraktiv dunkle, okkulten Phänomenen und schönen Frauen sich hingebende Dichter. „Er liebte sie und sie liebte ihn / Seine Küsse saugten ihre ganze Vergangenheit und Zukunft aus“, schrieb er in dem Gedicht „Liebeslied“. (Diogenes, 288 S., 22 Euro)

Rainer Moritz und Andreas Licht:Der schönste Aufenthalt der Welt: Dichter im Hotel. Rainer Moritz (Texte) und Andreas Licht (Fotos) entführen den Leser in die Welt schöner europäischer Herbergen und in die Welt der Literatur. Rainer Moritz ist ein begnadeter Fremden(ver)führer, ein Erzähler, dem kein Detail, keine wertvolle Episode entgeht.

Im Pariser „L'Hôtel“, heute ein 5-Sterne-Etablissement, starb der Autor Oscar Wilde am 30. November 1900. Moritz rekonstruiert das Ende und Wildes berühmten Ausspruch: „Die Tapete und ich liefern uns ein tödliches Duell. Einer von uns beiden muss gehen.“ Die Oscar-Wilde-Suite im ersten Stock ist besonders nachgefragt. (Knesebeck, 244 S., 34,95 Euro)

Dietmar Kanthak

Fikry El Azzouzi: Wir da draußen. Ayoub, ein 15-jähriger Belgier marokkanischer Abstammung, entdeckt irgendwann den Schriftsteller in sich, beginnt, seinen Alltag zu beobachten und seine Eindrücke aufzuschreiben. Im Nest Waasdorp schlägt sich seine Clique mehr schlecht als recht durch. Es gibt Stress mit den Vätern, kein Verständnis für deren Werte.

Ayoub und seine drei Freunde leben auf der Straße, schnorren sich irgendwie durch, quatschen pausenlos: über Familie, Frauen, Fitness. Und über die Marokkaner. „Wir Marokkaner sind die Übelsten, Verlogensten und Perversesten von allen. Doch manchmal findet man in dem Misthaufen eine Perle. Eine Perle mit Namen Ayoub“, schreibt Fikry El Azzouzi (38), selbst flämischer Autor marokkanischer Herkunft, über seinen Helden.

Mit drastischer Sprache, viel Witz und Einfühlungsvermögen begleitet er Ayoub und die Gang in die Gelegenheits- und Kleinkriminalität, lässt die Jungs Gewalt und Angst erfahren, eine Linie Koks im Separee und schalen Sex im Brüsseler Rotlichtviertel. Ayoub erscheint als eher stiller, vorsichtiger Junge, ein zerbrechlicher Maulheld, der eigentlich recht blauäugig durch seinen Alltag driftet. Islamismus und politische Gewalt sind Fremdwörter für ihn. Was nicht verhindert, dass sich die Gang schrittweise radikalisiert.

Ausgerechnet Kevin, der Konvertit, der sich Karim nennt, versucht, Ayoub und seine Freunde für den Dschihad zu gewinnen. El Azzouzis Roman ist eine authentisch wirkende Fallstudie, kein moralisierender oder gar sozialromantischer Leitartikel. Er buhlt nicht um Verständnis, sondern schildert die Dinge, wie sie offenbar sind. Das ist fesselnd und beängstigend zugleich. (Dumont, 221 S., 20 Euro)

Gustaaf Peek: Göttin und Held. Zu Beginn des Romans des Niederländers Gustaaf Peek (41) stehen wir an Tessas Grab und wundern uns über die sich allmählich aufladende erotische Stimmung, die in eine ausgelassene Ménage-à-Trois zwischen einem Halbwüchsigen und zwei älteren Frauen mündet. Ein schwüler Traum? Ein Rollenspiel? Eine Allegorie von Eros und Thanatos? Ist der Junge vielleicht eine Reinkarnation des verstorbenen Marius, Tessas rastlosen Liebhabers seit Schülerzeiten?

Peek hat über dieses ungleiche, gleichwohl in einer sehr intensiven und exzessiv ausgelebten Amour fou aneinandergekettete Paar einen Roman geschrieben. Surreale Momente, tiefschürfende innere Monologe, knisternde Erotik, heftiger Sex: Peeks vierter Roman hat allerhand zu bieten. Immerhin: Die Perspektive ist spannend, denn er beginnt mit dem Ende, Tessas Tod, und arbeitet sich langsam bis zu ihrer Jugend vor. Immer wieder kreuzen sich dabei Tessas und Marius‘ Wege. (DVA, 335 S., 19,99 Euro)

Thomas Kliemann

Margriet de Moor: Schlaflose Nacht. Der Titel dieser Novelle scheint sich schon im ersten Satz zu erklären. „Dies ist wieder eine dieser Nächte, die ich schlaflos durchlebe“, beginnt die Erzählerin. Der ruhige Ton aber, in dem sie über ihre Schlaflosigkeit berichtet, darüber, dass sie nachts aufsteht, um Kuchen zu backen, beobachtet nur von ihrem Schäferhundmischling Anatole, darüber, dass sie ihrem Mann dankbar sein muss, dass er ihr Zuhause so wunderbar eingerichtet hat, mit weichem Holzfußboden und einem Backofen in Kopfhöhe, lässt eigentlich nur Schlimmes ahnen.

Doch der Mann, der tief und fest in ihrem Bett schläft, ist nicht dieser fürsorgliche Ehepartner, sondern buchstäblich ein Fremdkörper. Ihr Mann Ton, von dem sie so zärtlich erzählt, erfährt der Leser bald, hat sich im Gewächshaus eine Kugel in den Kopf geschossen. Dieser Schuss reißt ihre Seele in den Abgrund, auch wenn sie ihr Leben äußerlich weiter führt wie bisher.

Sie hat ihr Studium erst gerade hinter sich, arbeitet jetzt als Lehrerin und bleibt in Tons Haus wohnen, obwohl „alle hier erwarteten, dass ich nach der Beerdigung weggehen würde“. Sie bleibt, weil sie verstehen will, was geschehen ist. Es gibt keinen Abschiedsbrief, keine Hinweise, keine Erklärung, warum er nach nur 14 Monaten Ehe seinem Leben ein Ende setzte. Weil es aber keine Erklärung gibt, droht eine diffuse Schuld, ihre Seele aufzufressen.

Margriet de Moors Erzählung, bei der es sich um eine Neubearbeitung einer früheren Fassung aus dem Jahr 1989 handelt, ergreift durch die ruhige Kraft ihrer Sprache, die keine effektvolle Dramatik benötigt, um in die Abgründe der menschlichen Seele vorzudringen. (Hanser, 127 S., 16 Euro)

Gerbrand Bakker: Jasper und sein Knecht.Zum ersten Mal hat der niederländische Schriftsteller Gerbrand Bakker dieses Haus in einem kleinen Tal in der Eifel zwischen Bitburg und Prüm im Jahr 2012 gesehen. Kurze Zeit später kaufte er es und zog dort mit seinem Hund Jasper ein. Unter dem Titel „Jasper und sein Knecht“ hat Bakker nun seine Notizen aus der deutschen Provinz veröffentlicht.

Das klingt trotz der Umkehrung der Rangfolgeverhältnisse von Hund und Herr zunächst einmal nicht besonders spannend für ein Buch, das mit fast 450 Seiten Umfang nicht eben ein schmaler Band ist. Aber es ist dennoch ein ziemlich gelungenes Buch, was an der Sprache und Erzählhaltung des Autors liegt, der hier eine ungewöhnliche Mischform aus Roman, Tagebuch und Autobiografie ausprobiert. Formales Rückgrat ist das Tagebuch, das Bakker um Erinnerungen, Einschübe und Reflexionen ergänzt.

Man darf den 1962 geborenen Bakker als einen Erfolgsautor beschreiben, der allerdings erst mit 37 seinen ersten Roman vorlegte. Für seinen zweiten, 2006 erschienenen Roman „Oben ist es still“ erhielt er den hoch dotierten International IMPAC Dublin Literary Award. In „Jasper und sein Knecht“ erlebt der Leser einen Mann mit Tendenz zur Depression, wie er in seiner neuen Heimat Fuß fasst.

Der mit seinem Gartenkumpel Han und Dachdecker Rudi sein Heim auf Vordermann bringt und mit dem eigensinnigen Straßenhund aus Griechenland die Umgebung erkundet. Darüber hinaus erfährt man viel über seine Eltern, Großeltern und Brüder, über seine Homosexualität und sein Dasein als Schriftsteller und Eisschnellläufer.

Das ist alles in einem leichten Sprache geschrieben, die nicht frei von Selbstironie und lakonischem Witz ist. Gelegentlich wird es sogar richtig lustig, wie zum Beispiel in der Episode, in der Bakker von dem festlichen Dinner mit der früheren Königin Beatrix berichtet, das er schwitzend in seinem neuen C&A-Anzug durchsteht. (Suhrkamp, 450 S., 24 Euro)

Bernhard Hartmann

Harry Mulisch: Schwarzes Licht. Dieses Frühwerk des niederländischen Großautors erschien 1956 und ist in Deutschland fast unbekannt; dem Wagenbach-Verlag ist sehr zu danken, es uns wieder zugänglich gemacht zu haben. Der kleine Roman erzählt vom 46. Geburtstag des wunderlichen Glockenspielers Maurits Akelei: 23 Jahre zuvor hat er nach dem gewaltsamen Tod seiner Freundin Marjolein sein Ingenieurstudium hingeschmissen, auf Musiker umgesattelt und sich fast vollkommen aus der Welt zurückgezogen.

Bedrückende Schlüsselszene, wie er in seinem Glockenturm gewolltermaßen dermaßen einsam ist, dass er sich eine Spinne als Gefährtin mitbringt: Sie verhungert, weil es so hoch oben keine Insekten gibt. Akeleis Geburtstagsfeier (geladen ist nur eine Handvoll Leute) ufert zu einer zynischen Orgie aus, bei der die nur scheinbar wohlgesittete Kleinstadt-Gesellschaft ihr wahres Gesicht zeigt und sich fast nebenbei auch klärt, wie Marjolein einst tatsächlich umkam. Am Ende versinkt die Szenerie in namenloser Schwärze, in der auch Maurits nicht etwa stirbt, sondern einfach verschwindet. Faszinierend, wie schon beim ganz frühen Mulisch dieses bedeutende Motiv seines Werkes auftaucht: die nur sehr dünne Grenze zwischen Realität und Fantastik.

„Sobald der Autor die Wirklichkeit unterworfen hat, vernichtet er sie zugleich“, urteilt der Mulisch-Biograf Sander Bax. „Wann immer der Mythos sich über die Wirklichkeit legt, beginnt unwiderruflich die Vernichtung.“ Ein ebenso mitreißendes wie verstörendes Buch, das den jungen Autor bereits als Meister zeigt. (Wagenbach, 140 S., 9,90 Euro)

Jan de Zanger: Warum haben wir nichts gesagt?Zu einer Jubiläumsfeier kehrt der erfolgreiche Anwalt Pieter an seine alte Schule zurück, fast 25 Jahre nach dem Abitur. Noch immer wirken in der Gruppe (jeder Klassentreffen-Besucher kennt das) die alten Sozial-Automatismen, angetrieben von immer noch denselben alten Großmäulern und Betriebsnudeln.

Nur einen blinden Fleck gibt es zwischen all dem Geplapper: Kein Mensch will über Sigi reden, der sich damals kurz vor dem Abi das Leben genommen hat. Pieter entschließt sich, die Decke des Schweigens wegzuziehen: Er wird der Wahrheit zum Sieg verhelfen und zugleich die auf einer Lüge beruhende Klassen-„Gemeinschaft“ für immer zerstören ...

Seit seiner Erstveröffentlichung 1991 (dem Todesjahr des Autors) ist das Buch eine beliebte Schullektüre. Dabei empfiehlt es sich auch und gerade für erwachsene Leser: Es ist ein Lehrstück über und gegen die Gewalt im Alltag – nicht nur derjenigen, die mit Wort und Tat die Schwächeren quälen, sondern auch der Mitläufer und derjenigen, die sich „vornehm“ raushalten – und jener (sie sind die Schlimmsten), die beim Mobbing nicht aus persönlicher Grausamkeit mitmachen, sondern weil sie in der Gruppe als besonders cool rüberkommen wollen. (Gulliver bei Beltz & Gelberg, 192 S., 6,95 Euro)

Wolfgang Pichler

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