Kommentar zu Streit um Gomringer-Gedicht Feministisch unterbelichtet

Meinung | Bonn · Studenten der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin wollen Gedichtzeilen von Eugen Gomringer übermalen lassen, die an der Fassade der Hochschule zu lesen sind. Sie empfinden sie als patriarchalisch. Ein Kommentar zu einer fragwürdigen Entscheidung.

 Die Fassade der Alice- Salomon-Hochschule.

Die Fassade der Alice- Salomon-Hochschule.

Foto: dpa

Die Alice-Salomon-Hochschule in Berlin ist ursprünglich für die Professionalisierung von Frauenberufen angetreten. Das sagte die Lyrikerin und Übersetzerin Barbara Köhler im Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger. Kein Wunder also, so ihre Argumentation, dass Studenten der Hochschule, wie berichtet, spanische Gedichtzeilen von Eugen Gomringer übermalen lassen wollen. Sie sind seit einigen Jahren an der Fassade der Hochschule zu lesen.

Übersetzt ins Deutsche steht da: „alleen/ alleen und blumen / blumen / blumen und frauen / alleen / alleen und frauen / alleen und blumen und frauen und / ein bewunderer.“

In diesem Gedicht, analysiert Köhler, laufe alles auf den Betrachter hinaus. „In dem Moment, in dem auf Frauen geguckt wird und dieser Betrachter eine maskuline Endung hat, ist dies ein klassisches Rollenmodell.“ Die Autorin kann sich in Studentinnen hineinfühlen, „die sagen, wir möchten den Text, der uns an patriarchalische Denkmuster erinnert, so nicht mehr haben“.

Mag sein, dass der Autor dieser Zeilen eine maskuline Endung hat, aber stellt die jüngst mit dem Alice-Salomon-Poetik-Preis der Hochschule ausgezeichnete Dichterin Barbara Köhler nicht leichthin etwas zur Disposition, was ihre Arbeit überhaupt erst ermöglicht: die Freiheit von Kunst und Kultur? Dabei ist es unerheblich, ob ein literarischer Text an einer Hochschulfassade oder zwischen zwei Buchdeckeln zu finden ist.

Was kommt als nächstes? Germanistikstudentinnen, denen Goethes oder Brechts patriarchalische Denkmuster, von maskulinen Endungen ganz zu schweigen, körperliches Unwohlsein verursachen? Goethes Faust, der nach Einnahme eines Zaubertranks „Helenen in jedem Weibe“ sieht, verführt, schwängert und verlässt Gretchen. Ihr Schicksal scheint ihm gleichgültig. Die Frau, die sündigt, weil sie liebt, die Mutter und Kind tötet und im Gefängnis landet, müsste ihn eigentlich verabscheuen. Doch Gretchen liebt, und sei es auch ohne Chance auf Gegenliebe. Ihr Monolog am Spinnrad („Meine Ruh' ist hin / Mein Herz ist schwer“) drückt in nur 40 Versen alles aus, was man über die Liebe wissen muss.

Dachte man jedenfalls bis heute. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Faust, sein Verfasser und das feministisch unterbelichtete Gretchen bald auf einem Index unzumutbarer Bücher landen. Man könnte die Seiten dieser Werke übermalen oder die Bücher auf andere Art aus der Welt schaffen. Den Studenten der Alice-Salomon-Hochschule fällt bestimmt etwas ein.

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