Ein langer Weg Die Schönheit der Schöpfung

bONN · Zu Bildhauer Paul Advena pilgern Berufstätige aus ganz Deutschland, um die Verzahnung von Handwerk und Kunst zu erlernen. Auf sie wartet kein Zeitvertreib im Wohlfühl-Modus, sondern harte Arbeit:

Permanente Veränderung: Bildhauer Paul Advena mit einer seiner jüngsten architektonisch geprägten Arbeiten.

Permanente Veränderung: Bildhauer Paul Advena mit einer seiner jüngsten architektonisch geprägten Arbeiten.

Foto: Benjamin Westhoff

Maschinen. Häuser. Städte. Nach einem Inferno. Bizarr verbogene Treppen, wie Rippen eines menschlichen Skeletts. Fetzen im Wind. Die Apokalypse in strahlendem Weiß. Chaos und Harmonie zugleich, schön und erschreckend, verstörend und betörend. Unmöglich, das Gesehene in Worte zu fassen. Ebenso unmöglich, sich dem Gesehenen zu entziehen.

Ihr Schöpfer, Bildhauer Paul Advena, Jahrgang 1955, wuchs in einer Zeit auf, als die reale Welt noch eine überschaubare Ordnung hatte: Da gab es Gut und Böse, trennscharf unterscheidbar, es gab nur Schwarz oder Weiß, einen zu rechten Winkeln sortierten Erdball, hier die Wirtschaftswunderrepublik und dort die Sowjetzone, hier der Westen und dort der Osten und dazwischen eine Mauer und irgendwo auch noch eine Dritte Welt, die uns die viertelstündige Tagesschau in bekömmlich portionierten Häppchen und in Schwarz-Weiß zum Abendbrot servierte.

Krieg und Katastrophen, grenzenloses Elend und Leid? Ja, aber woanders, weit weg und ausblendbar.

Inzwischen hat sich die alte Ordnung aus dem Staub gemacht, stattdessen rückt uns die Welt auf die Pelle. Das Bombardement in Syrien ist live und blutrot auf dem Handy zu erleben, der Klimawandel wird spürbar, sobald wir die Wohnung verlassen, Krieg und Elend in den ehemaligen Kolonien Europas münden in Flucht nach Europa. Ein Europa, das sich aufzulösen scheint.

"In jedem Ende liegt ein neuer Anfang", schrieb der spanische Philosoph Miguel de Unamuno. In Paul Advenas künstlerischer Welt gibt es weder Anfang noch Ende, sondern Prozesse permanenter Veränderung. Prozesse, die immer auch Chancen bieten. Das will er mit seiner Kunst zeigen.

Auch seine Biografie unterlag Prozessen permanenter Veränderung: geboren in der Nordeifel, aufgewachsen in Köln, gelernter Verlagskaufmann. Anschließend arbeitete er einige Jahre auf einem Bauernhof in der Nordeifel: "Biodynamische Landwirtschaft und Gartenbau. Das war damals für viele junge Leute meiner Generation ein Weg, um sich zu erden."

Nach dem schmerzhaften Ende einer Beziehung verließ der Mittdreißiger Deutschland, zog nach Italien, entdeckte dort seine Leidenschaft für die Kunst, kehrte zurück, studierte Bildhauerei und Kulturpädagogik an der Alanus-Hochschule in Alfter, arbeitete als freier Künstler, hielt sich mit allerlei Jobs über Wasser, fand eher durch Zufall, falls es den gibt, seinen Weg als Lehrer, wurde Dozent für plastisches Gestalten an der Rhein-Sieg-Akademie.

2004 kaufte er zusammen mit seiner Frau, einer Architektin, das ehemalige Fabrikgebäude in Beuel-Vilich, das in der Nachkriegszeit eine Matratzennäherei beherbergte, und baute es zu einem 800 Quadratmeter großen Zentrum für Bildhauerei um. Ateliers und Ausstellungsräume, Werkstätten und Lagerräume, reichlich Platz für Brennöfen und Gerüststangen, Hubwagen und Gabelstapler, Marmorblöcke und Baumstämme.

Der Maler Oskar Kokoschka pflegte in Anzug, blütenweißem Hemd, Krawatte und umgehängter Küchenschürze vor seiner Staffelei zu stehen. Bildhauerei hingegen braucht Platz, macht Dreck und Lärm, verlangt nach Handschuhen und Schutzbrillen und sorgt mitunter für Muskelkater.

So wie Advenas künstlerische Arbeit derzeit von der Architektur geprägt ist, so ist auch die gesamte Bildhauerei Prozessen permanenter Veränderung unterworfen: Objektkunst, Rauminstallationen, alles ist denkbar, auch alle Materialien bis zum Plastikrohr vom Baumarkt. Das einzige verbindende Element ist die Dreidimensionalität.

2006 ging Advena mit seinem Konzept eines berufsbegleitenden dreijährigen Basisstudiums an den Start - und schloss damit die breit klaffende Lücke zwischen einem Vollzeitstudium an einer Kunstakademie und jenen unverbindlichen Hobby-Zeitvertreib-Kursen im Wohlfühl-Modus, die landauf, landab angeboten werden.

Advenas Konzept scheint in Deutschland ziemlich einzigartig zu sein: Nur ein Drittel der Schüler kommt aus dem Rheinland zwischen Koblenz und Düsseldorf, der Rest pilgert aus der gesamten Republik nach Beuel - aus München, aus Berlin, aus Halle -, selbst aus der Schweiz. Das Interesse wundert den Initiator nicht.

Denn Bildhauerei ist in seinen Augen der krasse Gegenentwurf zur modernen Arbeitswelt, die das Potenzial des Menschen auf wenige Fertigkeiten in aseptischer, klimatisierter Umgebung reduziert: logisches Denken, das Bedienen einer Computer-Tastatur, das Betrachten eines zweidimensionalen Bildschirms. "Die Lust, zu gestalten, wohnt jedem Menschen inne", versichert Advena. Gern zitiert er dann Joseph Beuys: "Jeder Mensch ist ein Künstler."

Sofern der Mensch bereit ist, mehr mitzubringen als nur die Lust. Wer sich für das Basisstudium in der Beueler Bildhauerhalle entschließt, ist bereit, Freizeit und Energie zu opfern, Disziplin und den Willen zum permanenten Lernen aufzubringen.

Ein Bewerbungsgespräch vorab ist Bedingung: "Ich gebe den Bewerbern zu verstehen, dass dies hier kein Wellnessurlaub ist, sondern Arbeit" sagt Paul Advena. "Wir wollen Professionalität und künstlerische Qualität. Das erfordert die Bereitschaft, sich auf neue Erfahrungen und Veränderungsprozesse einzulassen."

Deshalb wird zu Beginn der dreijährigen Ausbildung auch nicht gleich fröhlich und selbstverwirklichend drauflosgehämmert, sondern zum Beispiel der skelettierte Schädel einer Katze oder einer Ziege naturalistisch aus Ton nachgebildet, um das räumliche Sehen und das Verständnis für Dreidimensionalität zu schulen, Kunstgeschichte und die Anatomie des menschlichen Körpers studiert, der handwerkliche Umgang mit Holz, Stein, Beton, Ton, Gips, Wachs, Bronze und den entsprechenden Werkzeugen bis hin zur Kettensäge unter Anleitung eingeübt.

"Die Bildhauerei ist eine Kunstform, die viel handwerkliches Wissen und Können erfordert", sagt Advena. Wie das aussieht, wenn sich handwerkliches Können und künstlerisches Gestalten in der Bildhauerei vollendet verzahnen, erfahren die Schüler bei gemeinsamen Werkbetrachtungen in Museen. Da bietet das Rheinland reichlich Gelegenheit, vom Lehmbruck-Museum in Duisburg über Tony Craggs Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal bis zum Arp-Museum Rolandseck. "Kunst erfordert, dass man eine Tür zum Werk öffnet", sagt Advena. "Das ist anstrengend. Kunst will nicht gefallen. Wenn Künstler gefallen wollen - das wäre der Tod der Kunst."

Aber auch die kollektive Betrachtung des eigenen Werks gehört zum Ausbildungskonzept. Sich der Kritik des Plenums und der nicht immer diplomatischen, sondern konsequenten und unmissverständlichen Kritik des Lehrers ("Das ist Deko-Kram") stellen - das muss man aushalten können. "Manchmal macht mich seine Kritik wütend", gesteht Brigitte aus Kerpen, Teilnehmerin des aktuellen Studiengangs. "Aber inzwischen komme ich damit klar. Weil es mich weiterbringt." Das sieht Ulla aus Essen ähnlich: "Paul lässt sich auf die Menschen ein", sagt sie. "Er geht jeden Weg mit, auch wenn es nicht sein eigener Weg ist."

Funktionalität. Schönheit. Proportionen. Bewegung. Komposition. Die Beziehung des Materials zum Raum. Die Beziehung der Skulptur zur Umgebung. Schließlich der Weg von der naturalistischen Darstellung zur Abstraktion. Weil es in der Kunst nicht um das Kopieren der Realität geht. Der dreijährige Weg von der gruppenorientierten Anleitung hin zur individuellen Entfaltung der Künstlerpersönlichkeit ist ein langer Weg, der die Schüler verändert.

"Wenn ich Kunst schaffen will, begegne ich auf dem Weg unweigerlich meinen eigenen Hindernissen", sagt Advena. "Prägungen aus der Kindheit. Verkrustetes Denken. Ich muss frei werden im Kopf, um frei zu gestalten."

Diese gestalterischen Kräfte will der aufmerksame Zuhörer und aufmerksame Beobachter Advena bei seinen Schülern mobilisieren, auch um sie in die Lage zu versetzen, über das Medium Kunst die Gesellschaft mitzugestalten.

Und er will sie wegführen vom oberflächlichen, zeitgeistigen Schönheitsbegriff. "Der skelettierte Katzenschädel ist schön. Die verdorrte Feldblume ist schön. Das Unkraut in der Mauerfuge ist schön. Jede Schöpfung der Natur hat ihre eigene Schönheit. Erst wenn der Mensch die Natur manipuliert, verschieben sich die Proportionen. Vergleichen Sie eine Wildrose mit einer gezüchteten Rose. Sehen Sie genau hin. Dann wissen Sie, was ich meine."

Weitere InformationeN: www.bildhauerhalle.de. Das nächste Basisstudium beginnt im November 2019 und endet im September 2022:

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