Absolute Macht, totaler Terror Die Mechanismen des Stalinismus

Bonn · Der russische Historiker Oleg Chlewnjuk geht in seiner Biografie des sowjetischen Diktators Josef Stalin den Mechanismen seines Herrschaftskonzepts auf den Grund.

 Auf die Spitze getriebener Personenkult: Ein DDR-Propagandaplakat aus den 50er Jahren porträtiert Josef Stalin in Uniform als idealen militärischen Führer.

Auf die Spitze getriebener Personenkult: Ein DDR-Propagandaplakat aus den 50er Jahren porträtiert Josef Stalin in Uniform als idealen militärischen Führer.

Foto: picture alliance / dpa

Mitte März wird in Russland ein neuer Präsident gewählt. Kaum jemand zweifelt, dass der alte Kremlchef der neue sein wird: Wladimir Putin. Was die anstehende Wahl mit einer Biografie über Josef Stalin zu tun hat, außer der gemeinsamen Herrschaftszentrale, dem Kreml? Der russische Historiker Oleg Chlewnjuk stellt am Ende seiner Stalin-Biografie die rhetorische Frage: „Kann es sein, dass Russland im 21. Jahrhundert in der Gefahr schwebt, die Fehler des 20. Jahrhunderts zu wiederholen?“ Im Klartext: Könnte Putin ein neuer Stalin werden?

Die Frage mag als Schlussbemerkung eines Buches, das sich auf über 500 Textseiten mit der Person des sowjetischen Diktators beschäftigt, mit den Mechanismen seiner Terrorherrschaft und ihren für Millionen von Menschen katastrophalen Folgen, alarmistisch erscheinen. Zu monströs scheinen die Verbrechen des Stalinismus, um sie auf Putins Herrschaft zu beziehen. Auf der anderen Seite: Auch Stalin startete nicht als totalitärer Herrscher, der mit einem Federstrich einzelne Menschen oder ganze Volksgruppen physisch vernichtete, ohne dass irgendeine Äußerung von Mitleid oder Empathie bekannt wäre.

Chlewnjuk nähert sich Stalin auf zwei Erzählebenen. Der Autor zahlreicher Bücher zur sowjetischen Historie kontrastiert die klassisch geschilderte Lebensgeschichte des Diktators mit ausführlichen eingeschobenen Kapiteln, in denen die dramatischen Stunden seines Todes geschildert werden. Aus Angst vor Stalins Zorn trauten sich weder seine Leibwächter noch später hinzugerufenen Mitglieder des engsten Führungskreises, die Ärzte zu alarmieren, nachdem der Diktator in den Morgenstunden des 1. März 1953 eine Hirnblutung erlitten hatte.

In seiner überaus gut lesbaren Lebenserzählung arbeitet der Autor insbesondere die Mechanismen heraus, die Stalins absolute Macht ermöglichten und sicherten. Eines der prägenden Elemente des Stalinismus: die Gesellschaft durch immer wiederkehrende Kampagnen zu mobilisieren und gleichzeitig zu terrorisieren. Jeder konnte zum Ziel erfundener Beschuldigungen werden: Kulaken oder Ärzte, Juden, Kaukasier oder Kosaken, Militärs oder Parteimitglieder, ganze Volksgruppen und Einzelpersonen.

Ein „Ja, aber“ lässt Chlewnjuk nicht gelten

Nichts und niemand konnte in Stalins Sowjetreich Schutz vor Verhaftung, Folter und Ermordung gewähren, wenn es im Machtinteresse des Diktators lag oder sein überall Verschwörungen witternder Verfolgungswahn ihn steuerte. Selbst engste Mitarbeiter, Weggefährten und Vertraute ließ Stalin exekutieren.

Auch das große „Ja, aber“ lässt Chlewnjuk nicht gelten: Dass Stalin schließlich mit Adolf Hitler den anderen großen Blutsäufer des Jahrhunderts geschlagen und damit Russland vor der Vernichtung gerettet habe. Tatsächlich kosteten jene Fehler, die sich Stalin persönlich anlasten lassen, Hunderttausende von sowjetischen Soldaten und Zivilisten das Leben. Unfähigkeit, Selbstüberschätzung und Starrsinn des „Woschd“ (russisch: Führer) ermöglichten den deutschen Invasoren bedeutende militärische Siege, wie der Historiker ausführt.

Die spannende Frage vor dem Lesen einer Stalin-Biografie aus russischer Feder: Wie bewertet der Autor die Verbrechen des Regimes? Schließlich gibt es in Russland immer wieder Versuche der Relativierung. Chlewnjuks Urteil über die Ära des Stalinismus jedoch ist unmissverständlich. „Millionen Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen wurden unter einer Vielfalt von Vorwänden verfolgt und in Lager gesteckt oder einfach getötet“, resümiert er.

Am Ende von Stalins Herrschaft sei ein großer Teil, wenn nicht gar die Mehrheit der überlebenden Bevölkerung „irgendwann einmal verhaftet, in einem Lager interniert, zwangsumgesiedelt oder einer milderen Form der Misshandlung unterworfen worden“.

Oleg Chlewnjuk: Stalin. Eine Biografie. Pantheon, 589 S., 15 Euro

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