Buchtipp "Der Hütejunge" ist ein halb dokumentarischer Roman

Eine Familie mit sechs Kindern, ein Dorf in der Eifel und der Krieg: Wir stellen Ulrike Blatters inhaltsreichen, halb dokumentarischen Roman "Der Hütejunge" vor.

 Das hier ist nicht Stadtkyll. Das macht aber nichts. Was in Ulrike Blatters Buch geschieht, geschah so oder ähnlich an vielen Orten in der Eifel – vielleicht auch hier in Üxheim.

Das hier ist nicht Stadtkyll. Das macht aber nichts. Was in Ulrike Blatters Buch geschieht, geschah so oder ähnlich an vielen Orten in der Eifel – vielleicht auch hier in Üxheim.

Foto: dpa

Rund 40 Kilometer südwestlich von Euskirchen, ungefähr in der Mitte zwischen Blankenheim und Prüm, liegt Stadtkyll. Trotz des Namens ist es eher ein großes Dorf. Die in Köln geborene, heute im Bodenseeraum ansässige Autorin Ulrike Blatter hat eine große Geschichte darüber geschrieben: aus einer auch für entlegene Orte leider sehr bewegten Zeit, den Jahren 1934 bis 1948.

Blatters Buch „Der Hütejunge“ ist kein Roman und keine Dokumentation, sondern eine Mischung aus beidem; Grundlage sind Erzählungen von Zeitzeugen (meist Blatters Verwandter und derer Freunde). Die Hauptperson heißt über 378 Seiten nur „der Junge“; er gehört zu einer Familie von sechs Kindern und ihrer verwitweten Mutter Katharina. Wir lernen ausführlich seine Welt kennen, folgen ihm durch Kindheit und Jugend, folgen ihm, wenn er als „Hütejunge“ Kühe auf die Weide führt.

Stets beeindruckt dabei, wie souverän die Autorin alle Versuchung zum Landleben-, Dorf-, Vergangenheits- und Naturromantik-Kitsch umgeht, die da immer droht. Stattdessen beschreibt sie zum Beispiel, wie ihr junger Protagonist die Urangst des Menschen vor dem Ausgesetztsein in der Natur empfindet. Oder dass es nicht ganz so weit her war mit der heute so oft beschworenen Frömmigkeit damals: Da sollen der Junge und sein Bruder Ernst einem Glasmaler zur Hand gehen, der in der Dorfkirche neue Fenster einbaut. „Der Junge dachte, dass Ernst sicher mehr Hoffnung hätte, wenn er bezahlte Arbeit finden würde, als wenn er während des Gottesdienstes auf bunte Heilige blicken könnte. Aber das behielt er lieber für sich.“ Später wird der Dechant die Brüder nach tagelanger Arbeit mit einer (!) Dose Corned Beef abspeisen – während sich im Flur des Pfarrhauses die Care-Pakete stapeln.

Die Front rollt über das Dorf und walzt es platt

Solch Lehrstücke enthält das Buch einige. Dazu kommen prägnante Passagen, die nichts lehren, sondern nur zeigen. Wie Adolf Hitler persönlich durchs Bild fährt (am 25. August 1938, also auf Seite 31). Wie die Frauen ihren Kindern auftragen, russischen Zwangsarbeitern Brot zuzustecken. Wie die Front über das Dorf rollt und es plattwalzt. Wie ein Bruder des Jungen als hungriger Schatten aus der Gefangenschaft heimkehrt.

Es ist dieser detailreich-realistische Blick, der Blatters Schilderungen zur lohnenden Lektüre macht. Ganz abgesehen vom sorgfältigen, vielgestaltigen Schreibstil, der nicht gewollt rural daherkommt, nicht romantisierend-manieriert, nicht proletarisch-schnoddrig, aber auch nicht unpassend sachlich. Gerade in einer echten Eifel hat auch das Geheimnis seinen Platz. Etwa in diversen Träumen und Visionen des Jungen, wie der vom „Wassermann“, dem er im Mühlenteich begegnet.

Weiteres Plus: Blatters Figuren passen nicht in Gut-Böse-Schemata. Selbst der NS-Ortsgruppenleiter, der Katharina das „Mutterkreuz“ überreicht (sie wirft es aus dem Fenster, der Junge sammelt es auf), hat möglicherweise Gutes im Sinn: Die Auszeichnung schützt sie (die Witwe eines Parteigegners) vor Schikanen. Oder die Schüler, die vom Lehrer tyrannisiert werden: Sie entwickeln keine Traumata, sondern wehren sich. Und wenn ein Schwein geschlachtet wird, sieht der Junge das durchaus nicht so pragmatisch, wie das verbreitete Klischee über Landbewohner behauptet.

Als der Krieg für Stadtkyll am 6. März 1945 endet, ist das kein historisches Ereignis, sondern ein sinnliches. Für Sprüche à la „Stunde null“ haben die Menschen keine Zeit. Sie sind mit Fühlen beschäftigt. Das Dröhnen der amerikanischen Panzer. Der Jubel der sich als befreit Empfindenden (oder Gebenden). Weiße Tücher. Das grelle Sonnenlicht in den Augen, „die nur noch das Dämmerlicht der Keller kannten“. Und die Stille. Keine Bombenflugzeuge mehr, keine Kanonen, keine Gewehrschüsse.

Wir verlassen den Jungen, als er die Schule verlässt. „Du da ...“, sagt der Lehrer. „Ich heiße Klaus“, sagt der Junge. Es ist, als überschreite er die Grenze von der Fiktion zur Realität – wie dieses Buch es tut. Ein Buch für jeden, der von lieblosen Historienschinken die Nase voll hat und lieber echte Geschichte liest.

Ulrike Blatter: Der Hütejunge. Eine Kindheit im Krieg. cmz, 398 S., 20 Euro

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